In dessen Hauptstadt Lagado gibt es eine Akademie der Wissenschaften, wo die Gelehrten – Spinner eigentlich - ziemlich skurrile Projekte am Köcheln haben. Einer von ihnen stellt Gulliver eine Art Satzbaumaschine vor, mit der sich alle Wörter einer Sprache rein mechanisch zu beliebigen Sätzen kombinieren lassen. Mit dieser Erfindung könne „die unwissendste Person (..) auch ohne die geringste Hilfe von Begabung oder Studium Bücher über Philosophie, Poesie, Politik, Recht, Mathematik oder Theologie schreiben.“ So dass sich im Lande Balnibari jeder Bürger am Aufbau eines monumentalen Wissensgebäudes, eines „vollständigen Systems aller Geistes- und Naturwissenschaften“ beteiligen könne.
Das war 1726. Die Zeit, in der in Europa eine unbändige Lust am Wissen erwachte. Swifts Spott galt einem neuen, etwas zwielichtigen Schlag von wissenschaftlichen Unternehmern, die mit ihren Erfindungen und Entwürfen herumhausierten und die Menschheit zu beglücken suchten. „Projektemacher“ wurden sie genannt. Sie sind typisch für dieses Zeitalter, in dem sich eine neuartige Wissensform gegen die alte Gelehrsamkeit durchzusetzen begann, aber die Grenze zwischen wissenschaftlicher Seriosität und Hochstapelei noch ziemlich offen war.
Ein Jekami der Wissensbastelei
Ich sehe in Jim Wales einen Projektemacher des digitalen Zeitalters. Und Wikipedia, dieses ameisenhafte Jekami der Wissensbastelei, könnte direkt der Akademie von Lagado entsprungen sein. Typisch ist der neuerdings oft erhobene antielitäre Ton. Die interaktiven Plattformen erlauben mehr Menschen den Zugang zu Information, Lernen und Wissen als je zuvor, hört man etwa. Die Intelligenz der vielen – des „Schwarms“ oder der „Wolke“ – wird beschwört. Die Philosophie klingt einfach: Ein genügend grosser Haufen debattierender Dilettanten ist klüger als ein paar Experten. Es ist nicht das erste Mal, dass Enzyklopädien sich Macht und Kontrolle von den Eliten wegzuschnappen versuchen. Mit diesem Gestus traten schon Diderot und d’Alembert auf. Zweifellos stellt Wikipedia alte Selbstverständlichkeiten des Wissenschaftsbetriebs in Frage. Ist sie tatsächlich zum Vorbild von Wissenschaft und Forschung geworden, wie kürzlich ein Journalist im „Spiegel“ schrieb? Ich glaube, die Behauptung sollte uns primär dazu anregen, ein paar alte Selbstverständlichkeiten wieder einmal unter die Lupe zu nehmen.
Kollaboration ist keine Wikipediaerfindung
Zunächst einmal ist die sogenannte Idee der Kollaboration kein Wiki-Prinzip, sondern das Markenzeichen der neuzeitlichen Wissenschaft. Kooperation der einzelnen über Eigeninteressen und Zunftgeheimnisse hinweg - so lautet das zündende Ideal seit dem 17. Jahrhundert. Nur bedeutet dies aber gerade nicht, dass der individuelle Geist im kollektiven „aufgehoben“ wäre. Inzwischen gehört es zum Gemeinplatz: Das Team bringt zwar oft Leistungen zustande, die jene der Mitglieder in erstaunlichem Mass übersteigen, aber es macht deswegen die Einzelleistung nicht entbehrlich. Weniger trivial ist das Glaubwürdigkeitsproblem, vor allem vor dem Hintergrund des Bekenntnisses zur Anonymität. Vor ein paar Jahren geriet Wikipedia in die Schlagzeilen, als die erfundene wissenschaftliche Identität eines Mitarbeiters aufflog. Ein akademischer Spezialist für Kirchenrecht entpuppte sich als junger Mann ohne akademischen Grad. Nun ist auch die Wissenschaftsgemeinde nicht gefeit vor Schummelei. Aber der Fall scheint mir dennoch einen Punkt zu akzentuieren, dem man meist zuwenig Bedeutung beimisst.
Personalität des Wissens
Ich nenne ihn die Personalität des Wissens. Wenn es auch idealerweise zutrifft, dass die wissenschaftliche Diskussion das Sachargument vor Person, Namen und Status stellt, spielt die Person eben durchaus eine Rolle als Bürgin von Qualität. Man sollte bei aller Hochhaltung unpersönlicher Objektivität diese eminent wichtige Funktion der wissenschaftlichen Persönlichkeit im Schaffen von Glaubwürdigkeit nicht unterschätzen. Es hat durchaus etwas Paradoxes: Wissenschaft basiert auf Skeptizismus; aber dieser Skeptizimus funktioniert gerade auf der Basis des wechselseitigen und meist stillschweigenden Vertrauens der Forscher darin, dass sie ihr Berufsethos erfüllen. Und Vertrauen entsteht nur unter Personen, am besten unter solchen, die die Qualitäten der andern kennen und die vor allem eines wissen: völlig neutral ist niemand. Eine Wissenschaftsgemeinde, die auf Anonymität und „Egalitarismus“ basiert, ist ein Widerspruch in sich.
Das Prinzip der Delegierbarkeit
Das herkömmliche Expertentum sieht sich heute immer mehr von nicht-menschlichen Experten herausgefordert. Der Herausforderung liegt das stillschweigende Postulat zugrunde, menschliche Kompetenzen – vom Knoten der Schuhbändel bis zum Lösen von komplexen mathematischen Problemen - liessen sich letztlich in einem Algorithmus ausbuchstabieren. Der Homo solle sich gar nichts darauf einbilden, dass er sapiens sei, so der Tenor, wissen könne auch die Maschine, wenn nicht sogar besser. Seit über drei Jahrzehnten bemühen sich „Wissensingenieure“, den Experten ihr Wissen aus den Köpfen zu pressen und „wissensbasierten“ künstlichen Experten einzuimpfen. Mit begrenztem Erfolg. Edward Feigenbaum, einer der Pioniere auf diesem Gebiet, stellte schon in den 1980er Jahren entnervt fest, dass das Wissen eines Experten oft „ungenau festgelegt oder unvollständig“ ist, „weil der Experte selbst nicht immer genau sagen kann, wie viel er über sein Fachgebiet weiss.“ Das wird so bleiben.
Eine Zusammenarbeit von Wetware und Software
Wikipedia verschmelzt ein natürliches Bedürfnis – Kommunikation – mit einer neuen Technologie – dem Wiki, einer Software zum gemeinsamen Lesen-Schreiben von Texten. Die Verschmelzung könnte sich – ungeachtet all der Probleme - als Experiment einer neuartigen Zusammenarbeit von Mensch und Maschine entwickeln. Als Kooperation zweier Arten von Intelligenz, der alten Wetware-basierten und der neuen Software-basierten. Die Frage, ob und inwieweit daraus eine „höhere“ Kollektiv-Intelligenz entstehe, überlasse ich den Schwarmgeistern. Einstweilen darf daran erinnert werden, dass wir Menschen die Maschinen auch als Spiegel benutzen können, uns neu kennen und definieren zu lernen. Und in diesem Sinn steht uns die wirklich grosse Aufgabe bevor, eine Arbeitsteilung zu finden zwischen dem „unmenschlichen“ und dem menschlichen Experten, zwischen dem, was Computer besser können und dem, was Menschen „unplugged“ besser können. Die neuen Suchmaschinen z.B. arbeiten immer schneller in den ungeheuren Datenmassen des Netzes. Aber wenn es um die Bedeutung und Relevanz von Information geht, sind Menschen nach wie vor die besseren Suchmaschinen, und nicht zuletzt deshalb, behaupte ich, weil ihr Wissen „inkarniert“ ist.
Spiel ohne Ende
Darin liegt womöglich das Faszinosum von Wikipedia: Die Enzyklopädie ist ein Spiel ohne Ende. Aber was steht eigentlich auf dem Spiel? Letztlich eine Trivialität: Der Unterschied zwischen Aufnahme eines Artikels in die Wikipedia (in jede Enzyklopädie) und Wahrheit. Für die Wahrheitssuche braucht es mehr als sich im Netz umzuschauen. Jeder Nutzer kann heute dank den avancierten Suchtechniken das Wissen finden, das er will oder braucht. Wenn sich dadurch die Grenze zwischen Amateuren und Experten zusehends verwischt, bleibt der Experte dennoch unentbehrlich. Der Grund ist leicht einsehbar. Will ich z.B. etwas über Kakadu-Zwergbuntbarsche wissen, klicke ich den einschlägigen Artikel an, und ich gehe davon aus, dass er aus vertrauenswürdiger Quelle stammt, die möglicherweise auf weitere vertrauenswürdige Quellen verweist - undsoweiter. Ich delegiere sozusagen die Vertrauenswürdigkeit. Aber dieses Delegieren muss ein Ende haben, irgendwann und irgendwo im Netz muss sich eine Primärquelle finden. Und diese Primärquellen sind Leute, die sozusagen in persona dafür einstehen, dass das Wissen über Zwergbuntbarsche mit der Welt der Zwergbuntbarsche übereinstimmt. Das war schon immer so. Das Netz akzentuiert bloß die Trivialität.
Der Goldstandard
Vertrauen ist gut, verifizieren ist besser. Das bringt uns nicht zufällig zu den Anfangsgründen der wissenschaftlichen Neuzeit zurück. Der Titel eines der ersten und einflussreichsten Bücher sagt alles: „Il Saggiatore“, die Goldwaage, geschrieben von Galileo Galilei. Genau das benötigen wir im Netz: Leute, die nicht nur wissen, sondern das Wissen auf die Goldwaage legen. Experten im alten Wortsinn von „expertus“: Menschen, die ihr Wissen als Kunde von der Welt erfahren haben, es verkörpern und fügen wir hinzu: verantworten. - Wahrheit hat zu tun mit verantwortetem Wissen – dem Goldstandard aller Enzyklopädien.