Am 21. November 1811 jagte sich der 34-jährige Heinrich von Kleist am Wannsee eine Kugel in Mund und Hirn, wahrscheinlich in heiterer, wenn nicht euphorischer Stimmung, nachdem er eine Gefährtin der letzten Wochen, die todkranke Henriette Vogel, auf ihren Wunsch ins Herz geschossen hatte.
Absoluter Satz
Seinen Freitod inszeniert er in Briefen und kommentiert ihn, frelich nicht, um ihn verstehbar zu machen, sondern um ihn aus dem vorausgeahnten Gerüchtenebel zu lösen. Nicht wegen Krankheit, Depression, Geldmangel, beruflichem Versagen, gekränktem Patriotismus habe er sich entschlossen, Hand an sich zu legen, sondern, wie er seiner Schwester Ulrike schreibt, die ihm zeitlebens am nächsten stand, weil „mir auf Erden nicht zu helfen war“ – ein Satz, mit dem er seine Nächste(n) von möglichem Schuldbewusstsein befreien will, ein Satz, der einen in seiner Absolutheit erschreckt.
Aus der Welt schaffte sich einer, dem anscheinend nichts gelingen wollte im kurzen Leben: eine hingeschmissene Militärkarriere, eine verschmähte Beamtenlaufbahn, fiebrige, aber zumeist unproduktive Reisen, der eher komischer Versuch, Bauer (oder Gutsherr) zu werden – in der Nähe von Thun notabene - , eine von ständigen Geldsorgen begleitete Journalisten- und Schriftstellerexistenz schliesslich, der kein wirklicher Erfolg beschieden war.
Die unbegreifliche Realität darstellen
Mit seinen acht Dramen (eines blieb Fragment) und Komödien, seinen acht Erzählungen, ein paar Essays und journalistischen Arbeiten hat das Genie Kleist nach seinem Tod Kultstatus bekommen, der zu Recht bis heute besteht.
Er war ein in seiner Zeit nicht verstandener Ungebärdiger und Unkonventioneller, ein, wie man heute sagen würde, Nonkonformist, ein mit unglaublicher Schärfe und Kompromisslosigkeit Denkender, dem die adäquaten Sprachmittel zur Verfügung standen, ein Moderner insofern, als er nicht davor zurückschreckte, Widersprüche auszureizen und auszuhalten, die Wirklichkeit bis ins Absurde zu öffnen, die unbegreifliche Realität darzustellen, ohne der Versuchung zu erliegen, ihr noch im prekärsten Zustand Sinn zu unterlegen, sie zu harmonisieren, wie das, literarisch und philosophisch, zu seiner Zeit Gemeingut war.
Wie wird man kreativ?
Ein kleiner Kleist-Text, ein Essay, ein Stück Prosa, das man immer wieder lesen kann und das einem stets aufs neue überraschende Wege zeigen wird (ein Stück, das ein Mitdenken des Lesers einfordert), trägt den umständlichen Titel „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“, stammt aus den Anfängen des Autors und umspielt aufs köstlichste das, was man mit dem Allerweltsbegriff „Kreativität“ benennen könnte.
Das Stupende, das für Kleist so typische Paradoxe an diesem Text, der die Form eines Briefes an einen guten Freund hat, was ein lockeres, ein intimes, ein für den Essay geeignetes sprunghaftes Schreiben erlaubt, besteht darin, dass uns mit Vehemenz und Eloquenz eine Methode angeboten wird, kreativ zu werden, die dem, was schon zu Kleists Zeiten als Binsenwahrheit galt, diametral zuwiderläuft.
Denk nach, bevor du redest, hiess es damals und heisst es doch noch heute, wenn man einmal das dummdreiste Geschwätz, das einem auf jedem Fernsehkanal unter dem Siegel „Talkshow“ angeboten wird, vergisst.
Schliesslikch als Gewinner vom Platze gehen
Unvorstellbar zwar, dass sich der emotionale, mitunter cholerische, dann wieder schüchterne Kleist, der die hochgereizte, oft wettkampfsmässig verlaufende Diskussionskultur, wie sie damals in den literarischen Salons gepflegt wurde, zu seinem Kummer nur grad recht und schlecht beherrschte, an heutigen Talkshows verlustiert hätte – aber das Denkrezept, das er anbietet, verblüfft in hohem Masse.
Dem Freund, dem er erklärt, wie er, wie man zu Denkresultaten kommt, rät er, mit einem gerade zur Verfügung stehenden Irgenjemand, der, wie er betont, keineswegs ein Ausbund an Scharfsinn sein muss, zu reden und zwar einfach drauflos, zu schwadronieren mit Fehlern, Umständlichkeiten und ziellosen Wortkaskaden, um derart auf nahrhafte Gedanken, auf Ideen, auf Neues, schliesslich auf Eigengeschöpftes,auf Kreiertes zu kommen.
Dabei wird der Gesprächspartner in die undankbare Rolle eines Stichwortgebers gedrängt, dem man, wenn es sein muss, agressiv begegnet, ihm das Wort abschneidet; „wie ein grosser General“, meint der militärisch versierte oder geschädigte Kleist, legt man mit solcher Strategie bei sich regendem Widerstand oder Widerspruch einen Zacken zu, um schliesslich als Gewinner vom Platz zu gehen: der Gewinn besteht in einer neuen Erkenntnis. In Abwandlung des Spruchs „l´appétit vient en mangeant“ ist Kleist von „l´idée vient en parlant“ überzeugt.
Tollkühne Sprünge und Beweisführungen
In der Folge springt er munter und mutwillig von einem Beispiel zum anderen, um seine Idee zu untermauern, bemüht kurz die Physik, genauer die Gesetze der Elektrizität, um dann - eine tollkühne Beweisführung - die Entstehung der französischen Revolution auf eine durch Reden gewonnene Erkenntnis Mirabeaus zurückzuführen, der sich weigerte, eine Sitzung der drei Stände zu beenden und dem König ausrichten liess, man werde sich freiwillig nicht vom Platz bewegen.
In einer Schlussvolte, in der er sich mit Examinierten und Examinatoren beschäftigt und dabei das Examinieren an sich verurteilt, weil es fertiges Wissen abrufe, statt zur Entstehung neuen Wissens beizutragen, wirft er sich noch einmal leidenschaftlich ins Zeug, um seine These der Gedankenfabrikation zu verteidigen. Dazu – und das ist ein durch den ganzen Essay sich ziehender roter Faden – bedürfe es einer „Erregung des Gemütes“, die eben durch Reden in Gang gesetzt werden könne.
"Erregung des Gemüts"
Was ist Kreativität, wie und wo entsteht sie, wie wird man ihrer habhaft? Wie kommt man zu neuer Erkenntnis? Wie verfertigt man einen Gedanken übers Reden? Gibt uns der Dichter praktische Anleitungen, können wir gar auf seinen Spuren kleine Kleists werden? In abenteuerlichen Bewegungen hat er das Thema durchgeschüttelt, hat es rhetorisch brillant hin und her gewendet, mit Metaphern und Beispielen illustriert.
Zuletzt aber packt er es gewissermassen wieder ein, lässt es in einem nicht genauer zu definierenden, in einem vagen Raum stehen. „Denn nicht wir wissen, es ist allererst ein gewisser Zustand unsrer, welcher weiss.“ Wir, die wir uns durchs Reden stimuliert, in eine „Erregung des Gemüts“ versetzt haben, warten, vielleicht vergebens, vielleicht mit Erfolg, auf neue Erkenntnisse, die sich uns en parlant mitteilen. Richten aber kann es nur der Zufall, der uns – ob wir es merken? – in den gewissen Zustand versetzt, der nötig ist, um ein neues Stück Wissen, Wissen im Sinn von Erkenntnis, zu erwerben.