Plötzlich, quasi aus dem Nichts heraus, schwappt eine Bewegung durch das Land, die Bürger die Augen reiben lässt und die etablierten politischen Kräfte (damit auch die Grünen) in erhebliche Unruhe versetzt. Vor einem Jahr noch konnte man gelegentlich den einen oder anderen Artikel lesen über computer- und netzsüchtige Eigenbrödler, die mit verschrobenen Forderungen nach totaler Freiheit der Informationsverbreitung und (mehr noch) –gewinnung öffentliche Aufmerksamkeit suchten. Und nun, nicht einmal 12 Monate später, sind diese Querköpfe drauf und ran, in das politische Gefüge des Landes einzubrechen. Erst in die Landesparlamente von Berlin und dem Saarland, demnächst - so scheint es – in die Landtage von Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein. Die Piraten – klar zum Entern?
Die jüngsten Umfrage-Ergebnisse überschlagen sich schier. Die bislang aktuellste Erhebung des Instituts Forsa für „Stern“ und RTL sieht die Piraten bereits bei 12 Prozent in der Wählergunst, nur noch einen Punkt hinter den Grünen und deutlich vor den Linken, den sich mehrfach umbenannten Nachfolgern der einstigen DDR-Staatspartei SED. Ganz zu schweigen von der liberalen FDP, die aus dem 3-Prozent-Tief nicht herauszukommen scheint. Dieser Popularitätssturm hat die deutsche Öffentlichkeit völlig unvorbereitet erwischt. Egal, ob Kommentare aus den „etablierten“ Parteizentralen, ob Erklärungsversuche sogenannter Parteienforscher und Wahlanalytiker oder Durch- und Tiefblick“ suggerierende Leitartikler – sie entpuppen sich im Grund alle als leere Worthülsen und hilfloses Stochern im wabernden Deutungsnebel.
„Irgendwie anders“
Kein Wunder, dass alle fasziniert und fassungslos auf das Phänomen Piraten starren und sich fragen: Was sind das für Leute, und was ist das für eine Kraft? Die wissen es ja selber nicht! Genauso wenig, wie auch nur einigermassen konkret auszumachen wäre, wofür oder wogegen sich das Ganze eigentlich richtet. Sie seien „irgendwie anders“, heisst es. Und: Sie verkörperten das Lebensgefühl der neuen, heranwachsenden „Cyber“-Generationen. Aber was heisst das? Es ist nicht zu übersehen, dass in Deutschland (wie in anderen Ländern auch) immer mehr Menschen der handelnden Politik kritisch bis ablehnend oder auch nur gleichgültig gegenüber stehen, weil sie den (und sei er vorgeschoben) Eindruck haben, doch nichts ändern zu können. Vor diesem Hintergrund ist es tatsächlich denkbar, dass ein gewisser Ansporn von dem Versprechen ausgeht, über Twitter, facebook usw. eine völlig neue Art des „Mitmachens“ zu erschaffen.
Aber: Des Mitmachens woran und wobei? Im klassischen gesellschaftlichen oder politischen Spiel machen die Piraten alles falsch, was man nur falsch machen kann. Sie sagen nicht, wofür oder wogegen sie stehen. Oder aber sie zählen viele hundert Punkte auf, die sich – wiederum in grosser Zahl – radikal widersprechen. Sie sind nicht links und auch nicht rechts; sie sagen nichts (oder wiederum Widersprüchliches) zu den drückenden Finanzproblemen oder den Spannungen in der der näheren und weiteren Welt. Teile der (männlichen) Piraten machen zudem kein Hehl daraus, „anti-feministisch“ zu sein. Die wenigen in den vergangenen Tagen etwas bekannter gewordenen Vertreter sind nicht einmal junge Himmelsstürmer, sondern mittelalte Bankangestellte, Medienwissenschaftler, solide Referenten in Ministerien oder Systementwickler. Aber trotzdem gilt die „Partei“ als hip, modern, unkonventionell, Transparenz versprechend, Protest ausdrückend.
Magnet für Nichtwähler
Das Aufkommen der Piraten ist in jüngster Zeit oft verglichen worden mit dem der Grünen zu Beginn der 80-er Jahre. Richtig daran ist gewiss, dass damals wie heute eine allgemeine Skepsis am einfachen „weiter so“ aufkam und auch wieder vorhanden ist. Der Unterschied aber ist auch nicht zu übersehen. Besonders in der Rückschau wird deutlich, dass die Grünen (unabhängig von ihrem damals teilweise clownesken Auftreten) das Aufgreifen ganz wichtiger gesellschaftlicher Probleme verkörperten: Die Sorge um die Umwelt, die Gefahr aus der Atomkraft, Zuwanderung, Nichtdiskriminierung
Es hat lange gebraucht, bis sich diese Inhalte in der Öffentlichkeit durchsetzten; mittlerweile sind sie in allen ernstzunehmenden politischen Lagern selbstverständlich geworden. Nichts davon haben die Piraten zu bieten. Und trotzdem sind sie ganz offensichtlich in hohem Masse attraktiv vor allem für die Masse der bis dahin politisch weitgehend uninteressierten (und uninformierten) Jung- bzw. Nichtwähler geworden. Sind sie es vielleicht sogar wegen der fehlenden Inhalte? Weil es darum keiner ernsthaften Auseinandersetzung bedarf?
Der Realitätstest steht noch aus
Es mag ja lustig sein, zu beobachten, wie die etablierten „alten Säcke“ beim Sturmlauf der Piraten ins Zittern kommen. Wie selbst SPD und Grüne bereits die Rechner hochfahren, um herauszufiltern, wie gross die Gefahr für die bereits ins Auge gefassten rot/grünen Bündnisse im Bund und den Ländern wird, falls die Sympathiekurve für die Neuen weiterhin so sprunghaft wächst. Doch wie wird es weitergehen? Irgendwann wird den Polit-Himmelstürmern aufgehen müssen, dass es dem spassigen Lebensgefühl sicher entgegenkommt, von revolutionären Veränderungen und Protesten zu träumen – insbesondere wenn das ohne wirkliche Existenzsorgen erfolgen kann.
Dann aber sollte eigentlich auch erkennbar werden, dass es ziemlich weit vom wirklichen Leben entfernt ist, etwa nach der kostenlosen totalen Informationsfreiheit im Netz zu rufen – ohne Rücksicht auf geistiges Eigentum, auf Patente oder gar moralisch-rechtliche Dinge wie das ungehinderte Verbreiten von kinderpronografischen Bildern.