Karfreitag ist die Erinnerung an Leiden und Sterben des Jesus von Nazareth. Es ist ein Tod, oder vielmehr ein Justizmord, der die Welt wie kaum ein anderes Ereignis verändert hat. Der Nazarener, der Menschlichkeit, Nächstenliebe und Vertrauen vor religiöse Gesetze und gesellschaftliche Konventionen stellte, galt den Autoritäten als Aufrührer. Mit seiner Beseitigung wollten sie jene Bewegung, die er ausgelöst hatte, ein für allemal ersticken. Doch ausgerechnet durch diese Hinrichtung am Kreuz wurde schliesslich das Feuer einer neuen Art des Glaubens entfacht.
Für viele Menschen, auch dem Christentum zugehörige, ist diese Geschichte weit weg, versunken in den Sedimenten einer altehrwürdigen, aber längst abgestreiften Kultur. Sie wirft vielleicht noch matte Reflexe auf lebendig gebliebene Bräuche der Osterzeit. Oder aber sie blitzt auf in den grossen Passionsmusiken Johann Sebastian Bachs. Diese Werke sind es, die zumindest den Musikliebenden unter den halb oder ganz Abtrünnigen die weltbewegende Geschichte vom Anfang des Christentums bei jeder Aufführung wieder zu Gehör bringen.
Den Rahmen gesprengt
Die Matthäuspassion gelangte erstmals zur Aufführung am Karfreitag 1727 in der Leipziger Thomaskirche. War schon die drei Jahre zuvor fertiggestellte Johannespassion ein Meilenstein der Musikgeschichte gewesen, so ging Bach hier nochmals deutlich über die 1724 vorangegangene Passionsmusik hinaus, und zwar in jeder Hinsicht: Eine Komposition von derartiger Komplexität und Raffinesse, aber auch von solcher Intensität und Gedankentiefe hatte es nie zuvor gegeben. Mit der Aufführungsdauer von etwa drei Stunden (zusammen mit Liturgie und Predigt ergab das damals einen Gottesdienst von gegen fünf Stunden) sprengte die neue Passion jeden Rahmen. Und dies, nachdem der Thomaskantor von der Obrigkeit mehrfach dringlich ermahnt worden war, es mit Schwierigkeit, Bewegtheit und Anspruch seiner Musiken nicht zu übertreiben.
Wer war dieser Bach, dass er es wagte, sich über Anordnungen des Leipziger Rates hinwegzusetzen? Über ihn als Komponisten wissen wir dank dem Gelehrtenfleiss mehrerer Generationen von Historikern und Musikologen zwar vieles. Seine persönliche Stimme fehlt jedoch in der Menge des Überlieferten fast ganz. Schriften von seiner Hand oder gar Tagebücher gibt es nicht. Äusserungen von Zeitgenossen, die ihn kannten, sind rudimentär. Ein paar wenige Briefe Bachs sind erhalten, und die verdecken fast alles Persönliche unter barockem Schwulst und peinlich anmutender Devotion.
Unfreiwillig in Leipzig
In einem Brief von 1730 an den Jugendfreund Georg Erdmann gibt Bach, halb versteckt unter einem Wust von Ergebenheitsfloskeln, immerhin die Frustration über seine Situation als Thomaskantor in Leipzig zu erkennen. Bach fühlt sich beengt durch äusserst zeitraubende Unterrichtspflichten an der Thomasschule und unzureichende Bedingungen für die Bewältigung seines riesigen musikalischen Pensums an mehreren Leipziger Kirchen. So trauert er denn dem Posten des Kapellmeisters am Hof des anhaltinischen Städtchens Köthen nach, den er von 1717 bis 1723 innehatte. Sein dortiger Arbeitgeber, Fürst Leopold von Sachsen-Anhalt, war ein praktizierender Musikliebhaber, der seinem Hofmusikus nicht nur alle Freiheiten, sondern auch ein ideales Umfeld samt einem Ensemble hervorragender Solisten bieten konnte.
Bach wäre gern dauerhaft am Köthener Hof geblieben, doch die gute Zeit endete nach der Heirat des Fürsten mit Friederica Henrietta von Anhalt-Bernburg. Bach nennt sie im Brief an Erdmann eine «amusa»; jedenfalls nahm es an Leopolds Hof ein Ende mit den musikalischen Höhenflügen. Bach musste sich nach einer neuen Stellung umsehen. Dennoch blieb das Verhältnis zum Fürsten ungetrübt. Zu dessen Tod 1728 komponierte Bach eine Trauermusik, deren erstes Stück er anschliessend umschrieb zum Eingangschor der Matthäuspassion «Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen».
Gewaltiger Schritt Richtung Klassizität
Das Fürstenrequiem wird also zum grandiosen Eröffnungsstück jener Passionsmusik, die, wie der Bach-Biograph Martin Geck schreibt, einen gewaltigen Schritt in Richtung Klassizität bedeutet. Was ist damit gemeint? Wohl dies: Bach arbeitet zwar nach wie vor mit dem barocken Instrumentarium der Komposition und der musikalischen Formen, geht jedoch bei der «Architektur» der Passion, in der gedanklichen Durchdringung des Stoffs und bezüglich Ausdruckskraft der Gestaltung weit über ein barockes Musizieren hinaus. Er bewegt sich damit auf einem Niveau, das die Konventionen seiner Epoche hinter sich lässt und eine zeitlose, eben «klassische» ästhetische Gültigkeit beanspruchen kann.
Es ist kaum zu begreifen: Der Mann, der sich vor längst vergessenen Fürsten und mässig wichtigen Stadtoberen bis zur Entwürdigung verbiegen muss, findet als Komponist zu einem selbstbewussten Künstlerstolz. Er ist devot, weil er es – aus äusseren Zwängen – muss; und er ist renitent, weil er es – aus innerer Notwendigkeit – ebenfalls muss.
Bach weiss, wer er ist. Deshalb kümmert es ihn nicht, dass er schon wegen der Johannespassion vom Rat der Stadt gerügt worden ist. Man will in Leipzig «besinnliche», keine «opernhafte» Musik. Auch soll sie nicht so übermässig lange dauern – und nicht so viel kosten. Als Bach an der neuen Passionsmusik arbeitet, muss er sich die Mahnungen der Obrigkeit erneut anhören. Doch er schert sich nicht darum. Gelobt sei Bachs Dickköpfigkeit!
Komplexität und Dichte
Mit der «grossen Passion», wie das neue Werk in seiner Familie stets genannt wird, will er an die Grenzen des musikalisch Möglichen vorstossen. Wie gross er denkt, zeigt schon der Aufführungsapparat, den das Werk verlangt. Bach komponiert die Matthäuspassion durchgehend doppelchörig sowie für zwei Orchester und zwei Orgeln. Im Eingangschoral kommt zu den zwei vierstimmigen Chören gar noch ein dritter einstimmiger hinzu.
In 68 Nummern wird der Text der Passionserzählungen des Matthäusevangeliums gesungen, ergänzt durch Arien, Choräle und freie Chorkompositionen, welche das Geschehen kommentieren und reflektieren. Das Werk ist allein schon vom Umfang her überwältigend. Vor allem aber beeindruckt es mit ungeheurer Dynamik, emotionaler Dichte und der nicht abreissenden Folge kompositorischer Höhepunkte.
Gebaut ist das Werk so raffiniert, dass Generationen von Deutern immer neue Symmetrien, Bezüge und Symboliken entdeckt haben und damit wohl noch lange an kein Ende kommen. Bis in die Notation einzelner Stimmen finden sich verborgene «Botschaften», etwa in symbolischen Zahlenwerten der Noten oder in vielschichtigen Korrelationen von Text und Musik. Die unterschiedlichen Affektqualitäten der Tonarten setzt Bach subtil als Gestaltungsmittel ein. Er kann dabei nicht nur auf zeitgenössische Musiktheorien, sondern vor allem auch auf seine Erfahrung aus der Komposition des Wohltemperierten Claviers, das systematisch durch alle Tonarten geht, zurückgreifen.
Verinnerlichung
Die zwei Teile der Matthäuspassion sind am Anfang und Schluss je von einer grossen sinfonischen Choralkomposition flankiert. In diesen vier herausragenden Stücken kommt das dialogische Hin und Her zwischen den Chören und Orchestern besonders zur Geltung. Die Musik ist darauf angelegt, die Hörenden in diesen Dialog hereinzunehmen. Sie bleiben nicht distanzierte Betrachter des musikalisch Erzählten. Vielmehr werden sie umhüllt von dem gleichermassen gewaltigen und fein abgewogenen Klanggeschehen.
Das prononcierte Ich, das sich in Chorpartien und Arien äussert, wird für die Hörenden zum Spiegel, in dem sie sich selbst erkennen sollen. Diese Musik will etwas von ihnen, nämlich dass sie sich die Botschaft des Werks zu eigen machen: Ich sollte büssen; Jesus tut es an meiner Stelle. Auf der Basis solcher Identifikation will die Passion die Hörenden weiterführen zur Verinnerlichung dieser Botschaft und deren Umwandlung in einen individuell angeeigneten Glauben, mit dem man leben und sterben kann. Diese Verinnerlichung ist den vierzehn Chorälen zugewiesen, populären und bis heute gebräuchlichen Kirchenliedern also, die gewissermassen dem Publikum gehören.
Vergessen und wiederentdeckt
Das Echo in der Stadt nach der Uraufführung in der Karfreitagsvesper von 1727 war, vorsichtig ausgedrückt, verhalten. Es gab zu Bachs Lebzeiten einige wenige weitere Aufführungen. Von Reaktionen ist nichts bekannt. Man scheint das Werk, in dem die Musikgeschichte zu einem ihrer Höhepunkte gelangt ist, in Leipzig schlicht ignoriert zu haben.
Für Bach selber hingegen blieb die Matthäuspassion für lange Zeit sein wichtigstes Werk, von dessen Partitur er 1736 eigenhändig eine Reinschrift anfertigte (Bild ganz oben). Dank ihr ist von der Matthäuspassion im Unterschied zu so vielen verlorenen Werken Bachs ein Autograph erhalten geblieben. Das kostbare Dokument ist allein schon durch die elegante, flüssige Notenschrift ein sprechendes Zeugnis von Bachs Kunst.
Nach Bachs Tod 1750 dauerte es ein Menschenleben, bis die vergessene Matthäuspassion wiederentdeckt wurde. Es war Felix Mendelssohn-Bartholdy, der mit der Aufführung 1829 in Berlin eine bis heute andauernde Bach-Renaissance auslöste. Bachs herausragendes Format war sogleich unstrittig. Im Geist des herrschenden Geniekults wurde der Thomaskantor alsbald zum Titanen der Musik stilisiert – und gemäss dieser Affiche inszenierte man seine Werke als konzertante Überwältigungen. Aufführungen von Oratorien und Passionen mit Chören von 400 Sängerinnen und Sängern sowie riesigen Orchestern waren keine Seltenheit.
Historisch informiertes Musizieren
Der Urwalddoktor und Organist Albert Schweitzer spricht in seinem einflussreichen Buch über Bach (1908) von solchen Aufführungspraktiken. Er kritisiert sie genauso wie das offenbar meist gravitätisch-schleppende Tempo und mahnt kleinere, agilere Besetzungen an. Man hat lange nicht auf Schweitzer gehört. Ältere Aufnahmen der Matthäuspassion, etwa mit Herbert von Karajan oder Karl Richter aus den siebziger Jahren, setzen noch immer auf riesenhafte Klangapparate und schlagen Tempi an, die gefühlt nur halb so schnell sind wie die heute üblichen (entsprechende historische Aufnahmen sind auf Youtube zu finden).
Der Unterschied zu der seit etwa 1980 sich immer stärker durchsetzenden «historisch informierten Aufführungspraxis» könnte kaum grösser sein: hier die modernen, rein und laut klingenden Musikinstrumente – dort die nach historischen Modellen gebauten Instrumente mit warmem, eher verhaltenem und nicht gänzlich reinem Klang; hier meist gross besetzte Klangkörper – dort kammermusikalisch aufgestellte Orchester und kleine (im Extremfall solistisch besetzte) Vokalensembles; hier ein Hang zu einem gravitätischen, gedankenschweren Duktus und einem Schwelgen in Klangbädern – dort ein agiles, «rhetorisches» oder sprechendes Musizieren.
Unumgänglicher Begriff des Genies
Spielt man Musik, die vor etwa 1830 entstanden ist, nach historisch informierter Art, so darf man annehmen, einigermassen nahe bei jenem Musizieren zu sein, das zur Entstehungszeit der Werke üblich war. Doch «historisch» im strengen Sinn sind solche Interpretationen deswegen noch lange nicht. Wolfgang Hildesheimer hat in seiner berühmten Rede «Der ferne Bach» (1985) gründlich mit der Vorstellung aufgeräumt, es bestünde so etwas wie die Möglichkeit eines originalen historischen Zugangs zur Musik vergangener Epochen.
Hildesheimer hält den in diesem Zusammenhang kursierenden Begriff der Werktreue für irreführend. Die historisch informierte Aufführungspraxis – sie war 1985 noch nicht so unstrittig etabliert wie heute – kritisiert er als artifiziell. Hildesheimer insistiert, Gefühlswelt und Ausdrucksweise des Barock seien für Heutige grundsätzlich fremd, ja sogar unverständlich. Jede Epoche müsse zu Werken früherer Zeiten ihren ganz eigenen Zugang finden, so dass ihre Kunst im Jetzt spreche.
Einer solchen Aneignung im Horizont der jeweils eigenen Zeit, so Hildesheimer weiter, stünden nur Werke von «überzeitlichem» Charakter offen. Die Grösse Bachs – wie auch anderer Grosser der Musik – erweise sich darin, dass seine Kunst über die Zeiten hinweg zugänglich sei, obschon ihr Urheber als barocke Person mit seinem ganzen Denken und Fühlen den Heutigen fern und fremd bleiben müsse.
Hildesheimer nimmt für diese überzeitliche Qualität den Begriff des Genies in Anspruch: «Ich weiss, dass der Begriff des Genies in das heutige soziologische Modell des Menschen nicht mehr passt, aber wie Adorno – gewiss nicht gern – feststellte: Wir kommen ohne den Begriff nicht aus. (…) Wer das Genie verleugnet, lässt die Menschheit verarmen, indem er ihre Typologie zum Primitiven hin reduziert. Die Wirklichkeit gibt ihm unrecht.»
Die Kunst, in der Zeit zu sein
Der Begriff des Genies drängt sich wohl nirgends so zwingend auf wie in der Musik, der abstraktesten und sublimsten der Künste. Denn was ist eigentlich Musik? Ein Klanggeschehen, das aus Intervallen und Abfolgen von Tönen gewaltige Gebilde voller Bedeutung errichtet. Hörende können sie spontan erleben und geniessen, und die entsprechend Disponierten unter ihnen können sie sogar zu verstehen meinen.
Als diejenige der Künste, die sich einzig in der ablaufenden, flüchtigen Zeit manifestiert, ist Musik seltsam ungreifbar. Sie erklingt immer nur in der unendlich kleinen Spanne des Jetzt-Punkts im Zeitfluss zwischen Zukunft und Vergangenheit. Aus dem steten Vorbeiziehen dieser klingenden Momente synthetisiert das Hören Melodien, Figuren und ganze Musikstücke, indem es das bereits Verklungene erinnert und verbindet.
So gesehen, ist das Hören von (beispielsweise) Bachs Matthäuspassion ein Vorgang von kaum geringerer Komplexität als der, sie zu singen und zu spielen oder gar sie zu komponieren – auch wenn die Synthese des Hörens grossenteils unbewusst vor sich geht. Das Musikhören ist die zur Kunst ausgeformte Weise, in der Zeit zu sein – in jener Dimension des Wirklichen also, von der schon Augustin am Ende des 4. Jahrhunderts sagte, wir wüssten trotz aller gedanklichen Anstrengung nicht, was sie ist.
Das Entscheidende scheint stets das zu sein, was wir partout nicht verstehen: die verfliessende Zeit, die bewegende Kraft eines Toten, das Vertrauen ins Leben – und Bachs Musik. Am 9. Juni 1827 schrieb der Musiker Carl Friedrich Zelter an seinen Freund Goethe: «Alles erwogen, was gegen ihn zeugen könnte, ist dieser Leipziger Kantor eine Erscheinung Gottes: Klar, doch unerklärbar.»
Eingangschor der Matthäuspassion von J. S. Bach, BWV 244, «Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen» (7'35"). Unter der Leitung von Philippe Herreweghe musizieren das Collegium Vocale Gent und das Collegium Vocale Orchestra. Solisten sind unter anderen Christoph Prégardien, Simon Kirkbride, Dorothée Mields und Hana Blazíková. Aus einer Aufzeichnung der Aufführung vom 28. März 2010 in der Kölner Philharmonie.