„Das Mädchen ist 15 Jahre alt“, korrigiert die Mutter den ersten Eindruck, es handele sich um ein Kleinkind. „Sie kam mit weichen Knochen zur Welt. Die Ärzte konnten mir nie erklären, was ihr fehlt. Inzwischen kann sie immerhin sitzen und kann alleine auf dem Boden krabbeln. Sie sagt ‚Mama‘, ‚Papa‘ und weint, wenn sie hungrig oder durstig ist… Ich muss sie immer noch füttern.”
Krebs
„Wir lebten in unserem Haus nur knapp 20 Meter neben einer Ölquelle. Eine weitere Texaco-Pumpe war etwas flussaufwärts, wo wir unser Trinkwasser holten. Das Wasser war meist ölig, und an der Oberfläche schwamm gelblicher Schaum“, erzählt eine Frau aus Sacha, eine Kleinstadt unweit des Río Napo in der ecuadorianischen Amazonas-Provinz Orellana. „Ich hatte elf Kinder. Pedro starb, als er 19 war… Er hatte drei Krebstumore: in den Lungen, in der Leber und in einem Bein.“
„Drei meiner Kinder starben“, trauert ein Mann in seiner bescheidenen Holzhütte nur ein paar Dutzend Meter neben der Ölraffinerie. „Meine kleinen Mädchen starben. Sie rannten draussen herum, und wenn sie nach Hause kamen, waren sie ölverschmiert. Und dann begannen sie zu sterben.“ Er habe damals bei Texaco um Hilfe gebeten, und sie hätten ihm versprochen, Hilfe zu schicken. „Aber bisher sind sie noch nicht gekommen, und das ist jetzt schon über zwanzig Jahre her.“
Leukämie
Ein Whistleblower bei Chevron machte die Fälle bekannt, Einzelfälle in einer Gesundheitskatastrophe immensen Ausmasses in Ecuadors Amazonasregion. 28 Jahre lang bohrte Texaco, das 2001 mit Chevron fusionierte, im Amazonasdschungel nach Öl und leitete in dieser Zeit die toxischen Abwässer direkt in die Flüsse und Bäche, von denen Tausende von Bewohnern des Regenwaldes abhingen. Dort holen sie ihr Trinkwasser, dort baden sie, dort fischen sie.
In Sacha und Umgebung häuften sich Krebserkrankungen, Geburtsfehler und andere Leiden. Ein gerichtlich bestellter Experte schätzte, dass Texaco/Chevron mindestens für 1400 Krebstote verantwortlich ist. Andere Studien registrierten auffallend viele Kinder, die an Leukämie erkrankt waren, und eine ungewöhnlich hohe Zahl von Fehlgeburten. Zehntausende beklagen sich über Diarrhöe nach dem Genuss von Wasser, über Hautreizungen und Pickel.
„Eine völlig neue Welt“
Einst, vor 1964, als Texaco plötzlich in ihre Welt einbrach, war der Regenwald tatsächlich noch unberührt. Die wenigen Menschen vom Volk der Cofán, der Huaroni, Quichua, Secoya oder Siona lebten von der Jagd, dem Fischfang, betrieben auch ein wenig Subsistenzwirtschaft und sammelten, was der Wald an Früchten, Beeren oder Nüssen zu bieten hatte. Zwei Nomadenvölker, die Tetetes und Sansahuari, die ebenfalls in der Region lebten, hatten noch nie Kontakt zur Welt des weissen Mannes gehabt – bis Texaco kam. Kurz nach der Ankunft von Texaco, das Strassen baute und eine Siedlung für seine Arbeiter, die sie nach dem texanischen Ort (Sour Lake), wo einst Texaco gegründet worden war, Lago Agrio nannten, galten die Tetetes und Sansahuari als ausgestorben.
Die Älteren erinnern sich noch an den Schock, den sie erlebten. Die Arbeiter verspotteten sie, zeigten nicht den geringsten Respekt für ihre Kultur, machten sich über ihre Sitten und ihre Bekleidung lustig, reagierten schroff und abweisend, wenn sie sich beklagten. Plötzlich lernten sie sexuelle Gewalt und Alkohol kennen. Ein Cofán-Häuptling starb nach einem Besäufnis. Doch am schlimmsten waren die Bohrarbeiten. „Sie bohrten nach Öl und nahmen Sprengungen gleich neben unseren Häusern vor. Es war eine völlig neue Welt für uns. Wir lebten plötzlich in einer Welt mit Lärm, grossen Maschinen und Öllachen und Abfällen aus der Petroleumproduktion“, klagt Ricardo Piaguaje, ein Secoya-Häuptling.
Viele zogen inzwischen fort, weil sie „nicht neben einer Strasse leben wollten“, wie ein Cofán-Häuptling sagte. Texaco verdrängte sie vom Land ihrer Ahnen. Die Umweltverschmutzung reduzierte die Fischbestände, mit dem Wald verschwand auch das Wild. Die Jäger und Sammler verloren ihre Lebensgrundlage und damit ihre Traditionen. Die meisten leben heute entwurzelt in bitterem Elend am Rande der neu entstandenen Siedlungen und Ortschaften.
Das Chernobyl Amazoniens
So wenig Ahnung wie die indigenen Völker so wenig Ahnung hatte auch die Regierung in Quito, was kommen würde, als sie dem US-Konzern Anfang der sechziger Jahre die Fördergenehmigung erteilte. Noch nie war im Regenwald des Amazonas nach Öl gebohrt worden. Die Regierung vertraute darauf, dass Texaco – eine US-Firma mit mehr als 50 Jahren Erfahrung in dem Geschäft – moderne und umweltschonende Technologien einsetzen würde. Doch Texaco kümmerte sich wenig um bestehende Gesetze zum Umweltschutz und operierte 28 Jahre lang möglichst kostensparend und verursachte eine Umweltkatastrophe, die Experten das „Chernobyl in Amazonien“ nennen.
Auf einem Gebiet etwa von der Grösse Erfurts grub Texaco 350 Bohrlöcher. In den Jahren der Bohrtätigkeit leitete Texaco über 65 Milliarden Liter sogenannten „produzierten Wassers“, ein Nebenprodukt des Bohrprozesses, in die Flüsse. In Louisiana, Texas oder Kalifornien ist diese Praxis schon seit Jahrzehnten verboten. In Ecuador konnte Texaco mit dieser illegalen Methode jedoch pro produziertem Barrel Benzin drei Dollar sparen. Als die Arbeiten 1992 eingestellt wurden, überliess Texaco seinem Partner Petroecuador ein Umweltchaos: 900 Abfallgruben, gefüllt mit Öl und giftigem Schlamm, die in der Regenzeit überlaufen; aus alten Förderstellen sickert immer noch Erdöl in den Boden.
Die Folgen eines Investitionsabkommens
1993 und 1994 reichten 30´000 Anwohner des Gebietes vor US-Gerichten Sammelklagen gegen Texaco ein. 2002 wiesen die Richter beide Klagen ab mit der Begründung, die Ansprüche sollten besser vor einem südamerikanischen Gericht geltend gemacht werden. Als in einem zweiten Prozess 2008 in Ecuador Schadenersatz in Höhe von 27 Milliarden Dollar von Chevron (als Rechtsnachfolger von Texaco) gefordert wurden, reagierte ein Washingtoner Chevron-Lobbyist in dem Nachrichtenmagazin „Newsweek“ aufgebracht: „Wir können nicht zulassen, dass diese kleinen Länder in dieser Weise mit grossen Konzernen umspringen.“
2009 schliesslich fuhr Chevron das grösste Geschütz auf. Ecuador habe mit den Klagen gegen das bilaterale Investitionsabkommen von 1995 verstossen. Nun verlangte das Unternehmen vom Permanenten Schlichtungsgericht einen internationalen Schiedsspruch. Mit einem solchen Spruch hätte Chevron Ecuadors Rechtssystem und Verfassung ausgehebelt und das richterliche Urteil erfolgreich abgewehrt. Tatsächlich entschied das Schlichtungsgericht, das unter Ausschluss der Öffentlichkeit und der ecuadorianischen Anwälte tagte, zugunsten des Ölgiganten.
Daraufhin reichte Ecuador erneut bei einem US-Gericht Klage ein mit dem Ziel, Chevron zu untersagen das Schiedsverfahren gemäss des Investitionsabkommens anzuwenden. 2012 entschied ein ecuadorianisches Gericht, dass der Spruch des Internationalen Schlichtungstribunals keine Anwendung finden dürfe. Im März dieses Jahres aber entschied das Internationale Schiedsgericht im niederländischen Den Haag, dass das bilaterale Investitionsschutzabkommen nicht zur Verhinderung von Zivilklagen geschlossen wurde. Daher sei eine Zivilklage zulässig und das Schiedsgericht in diesem Fall nicht zuständig, sondern das Gericht in Ecuador.
Lügen, Fälschung und Bestechung
2011 bereits hatte Richter Nicholas Zambrano am Provinzgericht von Lago Agrio Chevron zur Zahlung von 9,5 Milliarden Dollar verurteilt. Zusätzlich sollte sich der Ölkonzern in Zeitungsanzeigen in Ecuador und den USA entschuldigen. Zwar hatte Chevron zuvor stets in zahlreichen eidesstattlichen Erklärungen betont, das Rechtssystem des Landes sei fair und es werde die Entscheidungen der Gerichte respektieren, doch nach diesem Urteil brachte das Unternehmen den Fall zurück in die USA. In New York beschuldigte es die Anwälte der gegnerischen Seite, das Urteil durch Fälschung, Erpressung und Bestechung des Richters erreicht zu haben. Das Urteil sei Zambrano via USB-Stick kurz vor Verkündung überbracht und nicht von ihm selbst begründet und niedergeschrieben worden. Ein führender Computer-Kriminaltechniker widerlegte diese Behauptungen allerdings und fand heraus, dass das 180 Seiten lange Urteil über einen Zeitraum von vier Monaten geschrieben worden war. Zudem konnte Chevron die Seriennummern der angeblich verwendeten USB-Sticks nicht nennen, was den Verdacht erhärtete, dass die Firma Beweismittel fälschte.
Beweisen konnte Chevron die Anschuldigungen also nicht, dafür musste es aber zugeben, seinem Kronzeugen, einem ehemaligen ecuadorianischen Richter, mindestens 326´000 Dollar gezahlt zu haben. (Steven Donziger vom ecuadorianischen Anwaltsteam behauptete vor Gericht unwidersprochen, Chevron habe dem willigen Richter zwei Millionen bezahlt und ihn zudem mit seiner Familie in die USA geholt, ihm einen Wagen und Mittel für einen Hauskauf sowie Krankenversicherung zur Verfügung gestellt und ihn bei der Einbürgerung unterstützt.)
Manipulation
Ein Jahr später verdoppelte ein Berufungsgericht die Strafe, weil Chevron den Aufforderungen des Provinzgerichts in Lago Agrio nicht nachgekommen war. Da Chevron schon im Vorhinein angekündigt hatte, keinen Schadenersatz zu zahlen, selbst im Falle einer gerichtlichen Niederlage, kündigte nun Argentinien Rechtshilfe an. Es werde Chevron-Vermögen beschlagnahmen, bis die Summe von 19 Milliarden Dollar erreicht sei, ein international einzigartiger Vorgang.
Aus Kabeln des State Department geht hervor, dass Chevrons Anwälte gemeinsam mit dem US-Botschafter in Quito an einem Schuldenerlass und einem Sozialprogramm arbeiteten, das Ecuadors Präsidenten präsentiert werden sollte. Im Gegenzug sollte der Präsident den Prozess stoppen. Gleichzeitig bearbeiteten Lobbyisten amerikanische Abgeordnete, den bilateralen Vertrag über Handelspräferenzen für Ecuador aufzulösen, was dort 300´000 Arbeitsplätze gekostet hätte. Dieses Manöver schlug jedoch fehl, als 26 US-Kongressabgeordnete und vier Senatoren Briefe mit der Aufforderung, die Regierung möge sich aus dem Konflikt heraushalten, an den Handelsrepräsentanten der USA schickten.
Chevrons Recht des Stärkeren
Während des Prozesses in Lago Agrio wurde ein Videofilm gezeigt, auf dem ein Chevron-Auftragnehmer einem Freund erzählt, er habe eine Lebensstellung bei Chevron, weil er Korrespondenz in Sicherheit gebracht habe, „in der von Dingen die Rede ist, die du dir nicht einmal vorstellen kannst, Mann… Dinge, mit denen die (Dorfbewohner im ehemaligen Bohrgebiet) mir nichts dir nichts gewinnen könnten.“
„Bei einer Gelegenheit“, so berichtet Anwalt Donziger auf seiner Homepage „wurde ich Zeuge, als Chevrons Rechtsanwälte zu einem kritischen Ortstermin mit Dutzenden uniformierten und bewaffneten Soldaten eintrafen. Die Absicht schien klar: Die Angehörigen des Cofán-Volkes, die Jahre darauf gewartet haben, über die Zerstörung ihrer Kultur durch die Verschmutzung auszusagen, einzuschüchtern.“
Diese Methode ist nicht neu. Seit dem 21. August 2008 muss sich Chevron in San Francisco in zwei Fällen für „ungerechtfertigten Tod“, Verschwörung, Folter und Fahrlässigkeit verantworten. Der Grund: Im Mai 1998 demonstrierten über 100 Männer vom Stamm der Ilaje auf einer Ölplattform der Chevron-Tochter Chevron Nigeria Ltd. gegen Umweltschäden, die von der Ölfirma verursacht worden sein sollen. Auf Antrag von Chevron löste das nigerianische Militär die Demonstration gewaltsam auf, wobei zwei Menschen starben, andere wurden verletzt und elf festgenommen und anschliessend gefoltert. Im Januar 1999 jagte und schossen nigerianische Sicherheitskräfte auf die Bewohner zweier Dörfer des Ijaw-Stammes, die sich ebenfalls aus Protest gegen Umweltverschmutzung einer von Chevron gemieteten Bohrinsel näherten. Anschliessend zerstörten sie die beiden Dörfer Opia und Ikeyan im nigerianischen Bundesstaat Delta.