Demokratische Wahlen haben den Vorteil, dass scheinbar festgefügte Machtverhältnisse und erstarrte Stimmungsbilder unerwartet in Bewegung geraten können und so den Blick auf neue Perspektiven freigeben. Noch vor einigen Monaten hatte sich Israels Regierungschef Netanyahu von einer amerikanischen Zeitschrift mit seinem selbstgefälligen Einverständnis als „King Bibi“ feiern lassen, dessen Dominanz in Israel so gut wie unangreifbar sei.
Verengter Spielraum
Diese Königs-Aura ist bei den Parlamentswahlen vom Dienstag entgegen den meisten Prognosen empfindlich angekratzt worden. Netanyahus Partei – die er im Vorfeld der Wahlen mit der Formation seines inzwischen angeklagten früheren Aussenministers Lieberman zur Regierungspartei Likud-Israel Beiteinu fusioniert hatte – kommt noch auf 31 Sitze. Das sind deutlich weniger als die 42 Mandate, über die das Tandem Netanyahu-Lieberman bisher verfügt hatten.
Damit ist Netanyahu als „King Bibi“ zwar entzaubert, aber kaum schon als Regierungschef entthront. Seine Partei bleibt stärkste Kraft in der Knesset. Netanyahu dürfte deshalb weiterhin Ministerpräsident bleiben, doch wird sein politischer Spielraum enger werden, weil er stärker auf die Koalitionspartner angewiesen ist, ihm zu einer Mehrheit im Parlament zu verhelfen, wozu mindestens 61 Sitze nötig sind.
Aufstieg der neuen Lapid-Partei
Zumindest für den Moment ist der eigentliche Gewinner der israelischen Parlamentswahl der 49-jährige Journalist Jair Lapid, der mit seiner neuen Partei Jesh Atid (Es gibt eine Zukunft) laut den vorliegenden Ergebnissen auf Anhieb 19 Sitze gewonnen hat und so zur zweitstärksten Formation avanciert ist. Lapid hat mit diesem Erfolg den Ultranationalisten Naftali Bennet, der im Wahlkampf als angeblich unwiderstehlicher Siegertyp verklärt wurde, klar in den Schatten gestellt. Bennet brachte es auf 11 Sitze, das sind gleich viele wie die religiös-orientalische Shas-Partei und 4 Sitze weniger als die einst dominierende Labour-Partei. Unerwartet deutliche Gewinne kann die kleine linksliberale Meretz-Partei verbuchen. Sie hat ihre Sitzzahl von mageren 3 auf 6 verdoppelt.
Feilschen auf dem Koalitionsbasar
Völlig gesichert ist übrigens nicht, dass Netanyahu tatsächlich Ministerpräsident bleibt. Shelly Yacimovich, die Chefin der Labour-Partei hat in der Wahlnacht erklärt, dass sie alles daran setzen werde, um eine Koalition ohne Netanyahu zu schmieden, die sich stärker für den sozialen Ausgleich und glaubhaft für eine Wiederbelebung der Friedensbemühungen im Konflikt mit den Palästinensern einsetzen werde. Derartige Visionen sind schnell formuliert. Dass daraus in absehbarer Zeit Tatsachen werden könnten, ist höchst zweifelhaft, wenn auch in der labilen und sprunghaften israelischen Parteienlandschaft nicht restlos ausgeschlossen. Auf dem Koalitionsbasar dürfte noch wochenlang gefeilscht und intrigiert werden, bis schliesslich eine neue Regierung vereidigt werden kann.
Was aber bedeuten diese Knesset-Wahlen für den israelisch-palästinensischen Konflikt, der die Welt seit Jahrzehnten beschäftigt und der durch Netanyahus destruktive Siedlungspolitik – und auch als Folge der innerpalästinensischen Spaltung – wieder einmal hoffnungslos festgefahren scheint? Wohlmeinende Stimmen wie der britische „Economist“ sind der Ansicht, dass im Grunde nur der amerikanische Präsident im Verbund mit andern einflussreichen Mächten konstruktive Lösungen zum Durchbruch bringen könnte.
Bill Clintons „Parameter“ – neu lanciert?
Die Zeitschrift fordert Präsident Obama auf, in seiner zweiten Amtszeit nach Jerusalem zu reisen und mit leidenschaftlicher Überzeugung für einen detaillierten Plan zur Verwirklichung der Zweistaatenlösung – an die immer weniger Akteure und Beobachter glauben – zu werben. Dieser Plan sollte sich weitgehend an den „Parametern“ orientieren, die Präsident Clinton vor zwölf Jahren nach dem gescheiterten Gipfeltreffen von Camp David im Jahr 2001 formuliert hatte. Diese Parameter gelten unter vielen Experten noch heute als vernünftiges Konzept für eine faire und sicherheitspolitisch vertretbare territoriale Teilung zwischen Israel und den Palästinensern.
Voraussetzung für dessen Verwirklichung ist indessen der Wille und die Entschlossenheit unter den Konfliktparteien, eine solche Lösung zu akzeptieren. Dieser Wille ist heute zweifellos in Israel und unter den Palästinensern schwächer als vor rund zwei Jahrzehnten. Damals schien die Verwirklichung der sogenannten Oslo-Verträge noch in Griffweite zu sein, der israelische Ministerpräsident Rabin war noch nicht von einem jüdischen Fanatiker ermordet worden, der Siedlungsbau in den besetzten Gebieten noch nicht derart weit vorangetrieben und die Terrortaktik palästinensischer Extremisten während der zweiten Initifada hatte den Glauben an ehrliche Kompromisse noch nicht so nachhaltig vergiftet, wie das inzwischen den Anschein macht.
Bewegung auch unter den Palästinensern?
Dennoch muss ein neuer Anlauf Präsident Obamas zur Rettung einer Zweistaatenlösung für den Palästina-Konflikt nicht völlig hoffnungslos sein. Laut einer dieser Tage in der „New York Times“ von einem israelischen und einem palästinensischen Autor gemeinsam publizierten Artikel befürworten noch immer mehr als die Hälfte der Bürger auf beiden Seiten grundsätzlich eine solche Lösung, glauben aber kaum daran, dass ihre Führungen diese in die Tat umsetzen könnten oder wollten.
Doch durch die jüngste Knesset-Wahl ist das politische Kapital von Regierungschef Netanyahu erheblich geschmälert worden. Das könnte ihn – falls er sich entschliessen sollte, die zentristische Lapid-Partei in seine Koalition aufzunehmen – zwingen, auf Obamas Vorschläge weniger schnöde und destruktiv zu reagieren, als er das bisher getan hat. Dies wiederum würde es auch dem Palästinenserpräsidenten Abbas eher erlauben, die eingefrorenen Verhandlungen mit Israel über eine Zweistaatenlösung wieder in Gang zu setzen.
Aber selbst wenn im günstigsten Falle durch umsichtigen und hartnäckigen Einsatz der Obama-Administration wieder glaubhafte Bewegung in den erstarrten israelisch-palästinensischen Konflikt kommen sollte, bliebe immer noch die Frage, ob auch die radikale Hamas-Führung am Ende doch bereit wäre, entgegen der Rhetorik ihrer Führer eine Zweistaatenlösung mit international garantierten, eventuell von Uno-und Nato-Truppen überwachten Grenzen zu tolerieren.
Unzufrieden mit dem Status quo
Diese Überlegungen und Spekulationen mögen weit weg vom Ergebnis der israelischen Parlamentswahl erscheinen. Doch die überraschenden Verschiebungen im Parteiengefüge sind ein Indiz dafür, dass grosse Teile der israelischen Wähler mit dem politischen Status quo nicht zufrieden sind. Solches Unbehagen spricht kaum dafür, dass Netanyahu – oder sein Nachfolger – es sich wird leisten können, die provokative Siedlungsexpansion in den besetzten Gebieten und die damit unausweichlich verbundene Isolierung Israels noch jahrelang ungestraft fortzusetzen. Hochmut kommt vor dem Fall.