Die Reise an den Baikalsee hat sich für Kim gelohnt. In Ulan Ude traf er auf seiner ersten Russlandvisite seit 2002 mit Präsident Dimitri Medwedew zusammen. Dem Resultat nach zu schliessen verstanden sich die beiden ausgezeichnet. Kein Wunder. Sowohl Russland als auch Nordkorea haben strategische Interessen, die sich bestens ergänzen.
Nach dem Rezept des Vaters
Der mit allen Wassern gewaschene Autokrat Kim Jong-il tat mit der Reise das, was bereits sein Vater Kim Il-sung während des Kalten Krieges meisterhaft beherrscht hat: nämlich China gegen Russland auspielen. Die Zeiten des Kalten Krieges allerdings sind vorbei, als der alte Kim nach der Formel vorging: Der Feind meines Feindes ist mein Freund.
Der junge Kim lebt und agiert in einer andern Zeit mit einem sehr viel komplexeren internationalen Umfeld. Zwar ist Pjöngjang von China abhängig und ist weitgehend auf chinesische Hilfe (Nahrungsmittel, Erdöl) angewiesen. Doch die Beziehungen zum grossen Nachbarn sind längst nicht mehr so glatt und problemlos, wie vielfach im Westen angenommen wird, und schon gar nicht so eng wie zur Zeit der Koreakrieges (1950-1953) waren, als die Freundschaft – im kommunistischen Propaganda-Lingo – so eng war „wie Zähne und Lippen“.
Lukratives Transit-Geschäft für Nordkorea
In den Verhandlungen hatte Nordkorea den Russen auch viel zu bieten. Russland versucht seit Langem, den Nordkoreanern eine Gaspipeline von Russland nach dem wirtschaftlich boomenden Südkorea beliebt zu machen. Die Vorteile für beide Seiten sind offensichtlich. Kim könnte für seine marode Volkswirtschaft lukrative russiche Transitgebühren kassieren, und Medwedew könnte über die Staatsfirma Gazprom sein Energiegeschäft diversifizieren. Das Projekt ist nun in Ulan Ude so gut wie unterschrieben worden.
Nachgeholfen hat Russland mit dem Geschenk einer Getreidelieferung von 50'000 Tonnen. Nordkorea hängt seit Jahren am Tropf internationaler Nahrungsmittelhilfe. Überschwemmungen, hiess es in amtlichen nordkoreanischen Medien, hätte zu hohen Ernte-Ausfällen geführt. Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Die streng kollektivierte Landwirtschaft ohne nur die geringsten marktwirtschaftlichen Anreize sind ebenso, wenn nicht gar in noch höherem Masse für die jetzige Knappheit und die grosse Hungersnot in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre verantwortlich.
Atomprogramm als Hindernis und Trumpf
Die Gaspipeline ist nicht das einzige Geschäft, an dem die Russen interessiert sind. Es wurde auch über Ölpipelines, Elektritzitätslieferungen oder Rohstoffabbau gesprochen, wenn auch nichts vereinbart. Das Lieblingsprojekt der Russen, die Verlängerung der Transsibirischen Eisenbahn bis nach Südkorea, wurde ebenfalls kurz diskutiert.
Russland ist sich natürlich bewusst, dass all diese Projekte ohne die Lösung des Konflikts um das nordkoreanische Atomprogramm Makulatur bleiben. Deshalb waren die seit Dezember 2008 einseitig von Pjöngjang suspendierten Pekinger Sechsergespräche (China, USA, Japan, Russland, Nord- und Südkorea) ein wichtiges Traktandum in Ulan Ude.
Schielen nach dem Schicksal anderer Diktatoren
Kim Jong-il tat das, was zu erwarten war, wenn er materielle Hilfe braucht: wie oft zuvor versprach er das Blaue vom sibirischen Himmel. Er sprach sich für die Wiederaufnahme der Gespräche in Peking aus, „ohne Vorbedinungen“, und stellte gar ein „Moratorium für Atomversuche“ in Aussicht. Der „Geliebte Führer“ hat schon oft vieles versprochen, kaum jemals etwas davon gehalten und von seinen Verhandlungspartnern immer viel, vor allem Nahrungsmittelhilfe, und von China, wenn auch zähneknirschend permanente wirtschaftliche und politische Unterstützung bekommen.
Dass Nordkorea ohne Garantien auf sein Atomprogramm verzichten wird, ist unwahrscheinlich. Kim Jong-il hat vom Schicksal anderer Diktatoren gelernt und die richtigen Schlüsse gezogen, denn er weiss, dass die Atombombe sein einzig wirklich stechender Trumpf bei Verhandlungen ist. Die Nuklearwaffe ist sozusagen die Versicherung für Kim und seine Getreuen. Deshalb auch das Bestreben Pjöngjangs, direkt mit Washington zu verhandeln und zu einem Abschluss mit bindenden Sicherheitsgarantien zu kommen.
Moskaus Kalkül
Die USA andrerseits verlangen zusammen mit Japan und Südkorea zunächst von Nordkorea nach so langen Jahren der Versprechungen endlich einen Tatbeweis. Nordkorea verfolgt also strategische Ziele, bislang durchaus erfolgreich und auf Kosten des eigenen hungernden Volkes. Moskau andrerseits kann mit der Wiederannäherung an Pjöngjang wirtschaftlich langfristige Ziele verfolgen und sich – sollten denn die Pekinger Gespräche über das nordkoreanische Atomprogramm bald wieder aufgenommen werden – als Friedensstifter in Ostasien profilieren.
Die nordkoreanischen Medien jedenfalls feiern die Sibirienreise Kims als Grosserfolg. Von einer „historischen Gelegenheit“ ist etwa die Rede oder von „Beziehungen auf neuer und höherer Stufe“. Doch Kim wäre nicht der schlaue Kim wenn er sich nicht auf der Rückreise nicht noch kurz in China rückversicherte.
Rückversicherung in China
Das tat er dann bei einem kurzen Zwischenaufenthalt kurz vor der Überquerung der nordkoreanischen Grenze. Auch die amtliche chinesische Nachrichten-Agentur vermeldete dann nochmals, dass Nordkorea „ohne Vorbedingungen“ an der schnellen Wiederaufnahme der Pekinger Sechser-Gespräche interessiert seit.
Nach der letzten von insgesamt drei China-Reisen vor einigen Monaten noch lobte die nordkoreanische Propaganda Kim Jong-Il, wie er doch den Frieden liebe, auf Atomwaffen verzichten wolle und wie er der Wirtschaftsentwicklung allererste Prioritaet einräume. Und dies vor allem: Kim liege Wohlergehen des Volkes am Herzen.
Weder von Russland noch von China lernen
Davon sieht das Volk bislang jedoch wenig. Nordkorea, bis anfangs der 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts eine aufstrebende Industrienation und Südkorea ueberlegen, gehört heute zu den ärmsten Laendern der Welt. Ein Viertel der Rund 24 Millionen Nordkoreaner und Nordkoreanerinnen ist auf internationale Nahrungsmittelhilfe angewiesen.
Noch nach jeder Reise Kims spekulierten und orakelten Experten, Ökonomen und Nordkorea-Pundits, wie und vor allem wann sich das von der internationalen Umwelt hermetisch abgeschlossene Reich der Stille sich für Reformen öffnen werde. Von Russland, von China lernen? In den letzten zehn Jahren hatte Kim Jong-il drei Mal Russland und sechs Mal das Reich der Mitte besucht und mithin ausgiebig Gelegenheit, die russiche und chinesische Variante des Kapitalismus zu studieren. Ohne erkennbare Folgen.
Zuerst das Militär
Bislang ist tatsächling wenig bis nichts geschehen. Nach der ersten China-Reise in diesem Jahrhundert 2001 – kurz nach der Hungersnot mit über 1,5 Millionen Todesopfern - führte Kim einige marktwirtschaftlichen Reformen ein, die aber wenig später wieder rueckgängig gemacht worden sind. Auch der Plan einer Sonderwirtschaftszone in der Stadt Sinuiju an der chinesischen Grenze erlitt Schiffbruch. Eine desaströse Währungsreform vor zwei Jahren brachte Koreaner und Koreanerinnen eine galoppierende Inflation, einen sinkenden Lebensstandard von einer bereits enorm tiefen Basis aus und die Vernichtung der wenigen, übriggebliebenen Ersparnisse.
Die Politik nach dem Grundsatz „zuerst das Militär“ wird wohl nicht so schnell von einer Politik der Wirtschaftsreform abgelöst werden, nicht zuletzt auch darum, weil Kim Jong-il machtpolitisch von den Generälen abhängig ist. Wenig wahrscheinlich ist somit auch nach der neuesten Reise, dass sich in Nordkorea ökonomisch viel ändern und es dem Volk bald besser gehen wird.
Der "junge General"
Nordkorea durchlebt derzeit eine machtpolitische Übergangsphase. Der 69 Jahre alte Kim Jong-il, seit dem vermuteten Schlaganfall 2008 kränkelnd, bereitet seine dynastische Nachfolge vor. Sein jüngster, 27 Jahre alte Sohn wurde im vergangenen September vorgestellt und in seine ersten Ämter in Armee und Partei eingeführt. Kim Jong-eun, der einst zwei Jahre in einer internationalen Schule in Köniz (Kanton Bern) verbracht haben soll, heisst heute in Nordkorea im Propaganda-Jubeljargon „der junge General“. Mit vier Sternen, notabene.
Geschichtsprofessor Wang Xinsheng von der Pekinger Universität Beida formuliert die Folgen so: „Während einer Zeit des Machtwechsels wird es zu keinen signifikaten ökonomischen Reformen kommen“. Eine wirtschaftliche Öffnung – und das konnte Kim verschiedentlich gerade in Russland und China lernen – bringt auch mehr Durchlässigkeit für unerwünschte Informationen. Öffnung, so fürchtet deshalb wohl Kim nicht ganz zu unrecht, wird soziale Instabilität fördern, schlimmer noch, es wird die dynastische Nachfolgeregelung in Frage stellen.
Träume von einer "aufstrebende Supermacht"
Dass Kim Jong-il nach China nun auch mehr Unterstützung von Russland sucht, hat mit dem Jahr 2012 zu tun. Kim Jong-il selbst wird im Februar seinen 70. Geburtstag feiern, wichtiger noch, im April jährt sich zum hundersten Mal der Geburtstag des Gründervaters der Nation Kim Il-sung. Die gottähnliche Figur von Kim Jong-ils 1994 verstorbenem Vater wird deshalb 2012 ueberschwänglich, fast religiös gefeiert. „Nordkorea wird“, so Pjöngjangs Propaganda, „seine Tore weit öffnen auf dem Weg zu einer aufstrebenden Supermacht“.
Nichts weniger als eine starke und prosperierende Nation (“kangson taeguk“) wird Nordkorea ab nächstem Jahr sein. Ein ehrgeiziger Zehnjahresplan ist nach der amtlichen Koreanischen Zentralen Nachrichten-Agentur dazu entworfen worden. Russlands und Chinas politische und vor allem wirtschaftliche Hilfe ist bitter nötig.
Gebrochene Versprechen
Die Hilfe aus Südkorea, Japan und den Vereinigten Staaten fliesst vorerst spärlich bis gar nicht. Viel hängt eben von den Pekinger Sechser-Gesprächen über das nordkoreanische Atomprogramm ab. Soeul, Tokio und Washington wollen von Pjöngjang jetzt erst einmal Taten sehen. Seit Beginn der Pekinger Sechser-Gespräche 2003 hat Nordkorea viel Nahrungsmittelhilfe bekommen, dafür einiges versprochen und praktisch nie etwas gehalten. 2006 und 2009 liess Pjöngjang sogar A-Bomben zum Test explodieren und versenkte 2010 ein südkoreanisches Schiff. Nach Geheimdienstberichten arbeiten nordkoreanische Wissenschafter derzeit sogar daran, Langstreckenraketen mit Nuklear-Sprengköpfen einsatzbereit zu machen.
Was genau in Nordkorea vor sich geht, weiss niemand. Mit Gewissheit nicht einmal der südkoreanische Geheimdienst. Kein Wunder, dass deshalb Spekulationen und Gerüchte ins Kraut schiessen. Pjöngjang – so eine südkoreanische, unüberprüfbare Vermutung – versuche jetzt im Hinblick auf das Jubeljahr 2012 trotz relativ guter Ernten die Versorgungslage zu dramatisieren, um möglichst viel Nahrungmittelhilfe fürs grosse Fest zu erhalten.