Niemand weiss, wie der überraschende Vorstoss ukrainischer Armee-Einheiten in die russische Grenzprovinz Kursk ausgehen wird. Doch durch die Offensive sind einige Aspekte des von Putin vom Zaun gerissenen Angriffskrieges gegen die Ukraine zumindest vorläufig geklärt worden. Dazu gehört die jetzt von Putin selber widerlegte Behauptung, der Kreml sei jederzeit zu Waffenstillstandsverhandlungen bereit.
Die Identität der Ukraine hat einiges mit der Geschichte und der Mythologie der Kosaken zu tun. Diese freien Reiterverbände in den südlichen Steppengebieten im Umfeld von Don und Dnjepr waren bekannt durch ihre wilde Kampfbereitschaft im Dienste unterschiedlicher Kriegsherren und ihre Abwehrschlachten gegen andere einfallende Reiternomaden aus dem asiatischen Osten. Der ukrainisch-russische Autor Nikolai Gogol hat dem kosakischen Reitervolk in seiner Novelle «Taras Bulba» ein packendes literarisches Denkmal gesetzt.
Russisches Territorium unter ukrainischer Kontrolle
Die seit dem 6. August andauernde Invasion ukrainischer Militäreinheiten in die russische Provinz Kursk erinnert in gewisser Hinsicht an die oft besungenen kosakischen Traditionen. Dazu zählen in erster Linie das verblüffende Überraschungsmoment und die nicht weniger beeindruckende Kühnheit, mit der dieser Kosakenritt auf das Territorium der russischen Angreifer inszeniert worden ist. Niemand ausserhalb der innerersten militärischen und politischen Führung in Kiew hatte offensichtlich mit der Möglichkeit eines solchen Überrumpelungsmanövers gerechnet.
Und augenscheinschlich handelt es sich bei diesem Einfall auf russisches Gebiet um mehr als um eine eher symbolische Nadelstich-Operation, wie sie die Ukraine seit Beginn von Putins Angriffskrieg vor zweieinhalb Jahren verschiedentlich im russischen Hinterland durchgeführt hatte. Nach einem Bericht des ukrainischen Oberkommandierenden Sirski an Präsident Selenski vom Donnerstag sind ukrainische Truppen rund 35 Kilometer in russisches Territorium vorgestossen und kontrollieren ein Gebiet von über tausend Quadratkilometern.
Putin und der Beschuss von Zivilisten
Bisher liegen keine Meldungen über einen Rückzug der ukrainischen Invasoren vor. Hingegen ist inzwischen auch im russischen Grenzbezirk Belgorod, in dem schon früher kleinere ukrainische Angriffe stattgefunden haben, offiziell der Notstand deklariert worden. Das bedeutet, dass auch dort Evakuierungsmassnahmen im Gange sind. Insgesamt sollen wegen des ukrainischen Angriffs in beiden Regionen mehrere zehntausend russische Zivilpersonen aus den Kampfzonen evakuiert worden sein.
Auf politischer Ebene bemerkenswert ist die Stellungnahme von Kremlchef Putin, der fünf Tage nach Beginn der ukrainischen Invasion im Gebiet Kursk im russischen Fernsehen erklärte, Friedensgespräche «mit Leuten, die willkürlich Zivilisten, zivile Infrastrukturen und sogar Atomenergieprojekte beschiessen» kämen überhaupt nicht in Frage. Gerne wüsste man, wie viele unter den russischen Fernsehzuschauern die Ironie dieser Aussage erfasst haben. Zumindest den halbwegs kritischen Geistern in diesem Publikum sollte bewusst sein, dass Putins Streitkräfte seit zweieinhalb Jahren tagtäglich und willkürlich Zivilisten und zivile Infrastrukturen unter Beschuss nehmen.
Ein Faustpfand für Kiew?
Dennoch kommt Putins Aussage eine gewisse klärende Bedeutung zu. Er selber und seine Propaganda-Lautsprecher im eigenen Land und deren Nachbeter im Westen haben in den vergangenen Monaten immer wieder behauptet, Russland sei jederzeit zu Waffenstillstands- oder Friedensverhandlungen bereit – allerdings, so wurde vom Kreml ergänzt, zu den Bedingungen Moskaus. Nun ist diese unglaubwürdige «Friedensformel» vom russischen Kriegsherrn vollends vom Tisch gewischt worden.
Diese zumindest vorläufig geltende Klärung dürfte allerdings auch einen – wiederum vorläufigen – Dämpfer für die Hoffnungen bedeuten, die die ukrainische Regierung anscheinend mit dem ebenso kühnen wie riskanten Einmarsch in das Kursker Grenzgebiet verbindet. Laut BBC hat Michailo Podoljak, ein enger Berater von Präsident Selenskyj diese Woche erklärt, der Angriff auf das russische Territorium könnte Moskau endlich überzeugen, in ernsthafte Verhandlungen mit Kiew einzuwilligen. Die Ukraine sei zwar nicht an der Annexion von russischem Territorium interessiert, doch die jetzt erlangte Kontrolle über das Kursker Gebiet wäre für Kiew ein Faustpfand bei solchen ernst zu nehmenden Friedensverhandlungen.
Wann es je dazu kommt, steht gegenwärtig zwar noch in den Sternen. Aber manches spricht dafür, dass auch Putin sich eines Tages zu solchen Verhandlungen, die diesen Namen verdienen, bequemen wird, wenn er erkennen muss, dass er seine ursprünglichen Kriegsziele – eine weitgehende Kontrolle über den grössten Teil der Ukraine und die Verhinderung jeglicher Anbindung der Ukraine an die Nato-Allianz – in absehbarer Zeit nie wird durchsetzen können.
Erfolgreiche Geheimhaltung
Unzweifelhaft verdankt der ukrainische Vorstoss seinen bisherigen erstaunlichen Erfolg dem Umstand, dass die Vorbereitungen zu dieser Operation absolut geheim gehalten werden konnten. Wäre dies nicht der Fall gewesen, hätten die Ukrainer die russischen Grenz- und Sicherheitskräfte in diesem Gebiet gewiss nicht so leicht und schnell überrumpeln können. Offenkundig hat die ukrainische Militärführung wesentliche Lehren aus der gescheiterten Frühjahrsoffensive vom vergangenen Jahr im Donbass gezogen. Jene Offensive war damals wochenlang im Voraus in der Öffentlichkeit verkündet und diskutiert worden. Das wiederum veranlasste die russischen Streitkräfte, ihre Stellungen auf langen Frontabschnitten intensiv auszubauen und durch grossflächige Minenfelder zu verstärken. Mit der jetzigen ukrainischen Invasion im Kursker Oblast hatten die russischen Streitkräfte in keiner Weise gerechnet, was ihrer militärischen Aufklärung kein gutes Zeugnis ausstellt.
Laut Recherchen der «New York Times» sollen übrigens auch die westlichen Verbündeten Kiews über die Überraschungsinvasion im Kursker Gebiet nicht im Voraus informiert worden sein. Ob das genau zutrifft, bleibe dahingestellt. Doch es wäre nicht unbegreiflich, wenn die ukrainische Führung entschieden hätte, die gewagte Operation allein in eigener Kompetenz zu planen und in die Tat umzusetzen. Durch die Einbeziehung verbündeter Kräfte wäre eine konsequente Geheimhaltung des Angriffs schwieriger geworden, ausserdem hätte ein zusätzliches Risiko von Einsprachen und Bedenken von Seiten der Alliierten bestanden.
Ein anderer Aspekt des ukrainischen Vorstosses in die russische Grenzregion ist der Einsatz von Panzern und anderem Kriegsgerät, das von Kiew von westlichen Verbündeten geliefert wurde. Dieser Einsatz scheint innerhalb der Nato kaum umstritten, er gilt als gerechtfertigte Unterstützung der Ukraine bei ihrer Verteidigung gegen einen Angreifer, was von der Uno-Charta ausdrücklich legitimiert wird. Einschränkungen gibt es von westlicher Seite laut einem Bericht der «New York Times» weiterhin beim Einsatz von weitreichender Präzisions-Artillerie. Auch die russischen Streitkräfte setzen in ihrem Angriffskrieg gegen die Ukraine ausländische Waffen ein, die von ausländischen Staaten, etwa von Nordkorea und der Türkei, geliefert werden.
Stimmungsauftrieb für die kriegsversehrte Ukraine
Was die Gesamtbeurteilung der verblüffenden, seit mehr als elf Tagen andauernden Invasion ukrainischer Verbände in die Kursker Region betrifft, so gilt wie erwähnt der Grundsatz: Niemand weiss heute, wie diese kühne Operation sich weiterentwickeln wird und welches ihre genaueren Folgen sein werden. Auch seriöse Beobachter, die der Ukraine wohlgesinnt sind, verhehlen nicht ihre Skepsis über die nachhaltige militärische Wirkung dieser Inkursion und warnen vor der Möglichkeit schwerer Rückschläge.
Doch andererseits ist nicht zu bestreiten, dass dieser Vorstoss und die damit verbundene Notwendigkeit, zehntausende von Zivilisten zu evakuieren, für Putin und seine Militärs zumindest so lange eine klare Blamage bedeutet, bis die ukrainischen Invasoren sich entweder selber zurückziehen oder von russischen Truppen vertrieben werden. Aber solange offenbleibt, welche Richtung der Kiewer Kosakenritt nehmen wird, beschert das gewagte Unternehmen der vom russischen Überfall teilweise erschöpften Ukraine und ihrer Führung einen verdienten Stimmungs- und Hoffnungsauftrieb.