Für die Sommerferien hat Keya bereits ein genaues Reiseziel: die Westküste der USA. Sie weiss auch, was sie dort besuchen will: Universitäten. Sie will sich ein Bild machen über das Angebot, sagt sie selbstbewusst, «und wo ich mich am wohlsten fühle». Keya ist fünfzehnjährig. «Sie hat uns schon vor drei Jahren erklärt», sagt ihre Mutter Varsha, «dass sie in den USA studieren will; auch das Fach will sie selbst wählen».
Resolute Karriereplanung
Da sie bei ihrem Onkel in San Francisco wohnen kann, wird sie bei Stanford anfangen, dann USC, schliesslich die staatlichen Unis abklopfen: Berkeley, San Diego, Irvine, LA. «Vielleicht noch CalTech». Für Stanford hat sie die ersten Anmeldeformulare bereits ausgefüllt. Sie hat dort auch gelesen, dass Spanischkenntnisse bei der Aufnahme in eine kalifornische Uni Extrapunkte bringen; deshalb wird sie ab Herbst einen Spanischkurs beginnen. Dies wäre nicht weiter bemerkenswert, hätte sie mir nicht kurz zuvor gesagt, dass sie seit zwei Jahren Mandarin und Koreanisch lernt.
Keya ist eines dieser vielen tausend indischen Kids, die vor Intelligenz bersten und mit einer Selbstverständlichkeit brillieren, als wäre ihnen ein über Generationen angehäuftes IQ-Potential in die Wiege gelegt worden. Dabei führt bei Keya keine Intelligenzspur in frühere Generationen zurück, sie hat keinen Mathematiker-Onkel, keine dichtenden Tanten. Ihr Grossvater war Bau-Ingenieur, kam vor fünfzig Jahren aus Ostbengalen nach Kalkutta und startete ein Unternehmen, das sich auf den Bau von Fabrik- und Flughafenhallen spezialisiert.
Sein Sohn Shobhu, Keyas und Priyas Vater, lebt mit der Familie immer noch in einem fast kleinbürgerlich-spartanischen Mittelklasse-Haus in einem heruntergekommenen Quartier von Kalkutta. Für indische Verhältnisse sind sie reich, aber Mutter Varsha ist froh, ihr Haus gleichzeitig als Home Stay anbieten zu können. Keyas Grossmutter steht in der Küche, macht Chutneys und knetet die Chappatis für die Tiffin Box der Kinder.
Hochintelligent und illusionslos
Vielleicht ist dies ein Grund, warum Keya weder altklug noch arrogant wirkt, sondern nur fokussiert. Nicht nur, wenn es um Reise- und Studienpläne geht. Mit der gleichen Klarheit analysiert sie die Firma ihres Vaters, die «Erziehungsversuche» der Eltern, Mutters Wohnaustattung, das Schlamassel in Indien. «Sie hält uns jeden Tag einen Spiegel vor», sagt Mutter Varsha mit süss-saurem Lächeln. «Oft ist es nicht einfach, da hineinzuschauen. Vor allem, wenn sie vieles so genau trifft».
Die Eltern haben sich darauf eingestellt, dass Keya nach ihrem Studium nicht nach Indien zurückkehren wird. «Es ist kein Land, in dem ich leben kann. Und schon gar nicht arbeiten. Ich muss ja nur meinem Vater zuhören, wenn er von seiner Arbeit spricht!». Und erst das Elend! In ihrer privaten Elite-Schule betreuen sie mehrere Slum-Schulprojekte. «Ich weiss, sie dienen nur dazu, uns ein gutes Gewissen zu geben. Denn was können wir schon tun, bei den Hunderten von Slums in Kalkutta? Und was tut die Regierung? Die Lehrer bleiben zuhause, geben uns reichen Kids Nachhilfeunterricht. Die Politiker und Beamten saugen die Armen aus, statt ihnen zu helfen».
Die Mutter schaut mich mit grossen Augen an, während ich Keya zuhöre, verdattert über so viel Rage – und Richtigkeit. Inzwischen ist der Vater zu uns gestossen; es ist spätabends, wir wollen noch ins Kino gehen und verabschieden uns von den Mädchen. Im Auto sagt er mir, Keya wolle ihr Studium mit Stipendien finanzieren, so dass sie von den Eltern unabhängig ist. Und dass sie später nicht ins Unternehmen einsteigen will, was ist damit? Er zuckt die Achseln. «Ich übe keinen Druck auf sie aus – sie hat ja recht. Es ist kein Schleck, in Indien zu arbeiten».
Demütigende Verhältnisse
Am nächsten Morgen entdecke ich Shobhu um sechs Uhr in seinem Wohnzimmer, über Papiere gebeugt. «Manchmal weiss ich nicht, warum ich dies tue. Zuerst mache ich Offerten, reduziere Runde um Runde meine Margen, um an einen Auftrag zu kommen, muss liebedienern und schmieren. Warum? Um am Schluss dem Bauherrn nachzurennen, damit er mich bezahlt!». Er führt immer noch eine ausstehende Forderung eines staatlichen Unternehmens in seinen Büchern – sie datiert aus dem Jahr 1978.
Und wie war das mit dem Schmieren? Keya hatte erwähnt, ihr Vater müsse manchmal mit Bündeln von Geld nach Delhi reisen. Ja, vor kurzem, sagt er; es sei um einen kleinen Flughafenterminal in Assam gegangen. Er wurde zu einem hohen Beamten der nationalen Flughafenbehörde beordert. Es sei bizarr gewesen – er sei in einem Büro gelandet, in dem es stockdunkel war, und musste mit einer Stimme verhandeln. «Sie haben Angst, dass Leute eine geheime Kamera auf sich tragen!». Aus dem Dunkel des Autos kam die Stimme von Shobhus Frau: «Es ist so erniedrigend! Keya hat wirklich recht. Wir sollten das Geschäft verkaufen!»
Am nächsten Morgen schaue ich mit Varsha vom Balkon auf den Park Street Maidan, mit den vielen Frühaufstehern, die laufen, Yoga üben, Cricket spielen. Es sieht friedlich aus, und ich frage sie, warum sie den ganzen Balkon vergittert hat. Varsha weist auf die schweren Stahlgeländer auf der Strasse unter uns, die den Gehsteig abgrenzen. Sie zeigt mir einige Lücken. «Vor ein paar Wochen sah ich eines Nachts zu, wie mehrere Männer Teile davon absägten. Ich schrie ‚Diebe!‘, aber sie machten ruhig weiter. Ich rief die Polizei an, Niemand kam. Später erfuhr ich den Grund, warum die Diebe keine Eile hatten: die Polizei steckte mit ihnen unter einer Decke». Hatte sie den Kindern davon erzählt? Sie wirft mir einen vielsagenden Blick zu. «Na klar. Wir diskutieren Alles. Keya hatte einen weiteren Grund, Indien den Rücken zu kehren!».
Gebildete Busfahrerin
Im Gegensatz zu Keya ist die elfjährige Priya ein stilles, träumerisches Mädchen, das ihre ältere Schwester verehrt. Als ich sie frage, was ihr Berufsziel sei, meint sie schlicht, sie werde das studieren, was Keya studiere. Dann besinnt sie sich und sagt voller Ernst: «I want to become an educated bus-driver». Educated? «Ja, heute muss man viel wissen, wenn man das Leben meistern will». Und warum Busfahrerin? Sie schaut hilfesuchend zu ihrer Mutter. «Letztes Jahr machten wir eine Reise in Österreich, auf den Spuren von ‚The Sound of Music’», erklärt mir Varsha. «Wir sassen in einem Bus, der von einer jungen Frau gefahren wurde. Priya war ganz hingerissen – die Leichtigkeit, mit der sie das Fahrzeug lenkte, wie fröhlich sie war, die Freiheit, mit der sie über die Grenze nach Deutschland, und wieder zurück fuhr».
Am liebsten hätte ich Priya gefragt, ob sie das Grimm-Märchen von ‚Hans im Glück‘ kennt.