Wer schier verzweifelt über die düstere Zukunft der gedruckten Zeitung, kann in Kerala wieder Hoffnung schöpfen. Das Geschenk einer Ayurveda-Kur hat meine Frau und mich in ein Dorf namens Chittilamcheri gespült, abseits der grossen Touristenwege entlang der Küste. Jeden Morgen spaziere ich durch die kleinen Gassen, erfreut über das Fehlen von Abfall und die Zahl neuer und grosser Häuser mit dem grünen Baldachin von Kokos- und Betelpalmen darüber.
Noch mehr erfreut mich der Anblick der vielen Frühaufsteher. Es ist noch nicht sieben Uhr, und schon sitzen sie auf der Veranda, im Garten, auf der Dachterrasse, im Hausgang, trinken Tee und lesen Zeitung. Das einzige, was ich mit derselben Konstanz ebenfalls wahrnehme, sind die Frauen, die mit gebücktem Rücken den Hof oder die Vortreppe wischen.
Lauter alte Menschen
Dieses Bild hat meinen Blick auf die Zeitungsleser verändert: Es sind alles Männer. Am vierten Tag sah ich plötzlich etwas Neues – ein kleines Mädchen, das mich grüsste mit dem üblichen «What is your name?». Erst dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Die Zeitungsleser sind durchwegs in fortgeschrittenem Alter; sie und die gebückten Frauen sind meist allein.
Der Bericht eines Kerala-Heimkehrers aus Delhi kam mir in den Sinn. Sein Zug war am frühen Morgen durch Tamil Nadu gefahren, bevor er die Grenze zu Kerala überquerte. In Coimbatore hatte er viele Leute auf der Strasse gesehen, die ihre Haustür schlossen, auf den Bus warteten oder mit dem Fahrrad zur Arbeit fuhren. Kaum über der Grenze, was sah er? Alte Menschen, die vor ihrem Haus sassen und... Zeitung lasen.
Was hinter den blendenden Zahlen steckt
Kerala ist Indiens Vorzeigeregion, die, wäre sie ein unabhängiges Land, mit ihren Sozialindikatoren irgendwo im Mittelfeld eines europäischen Wohlfahrtsstaats rangieren würde, weit vor dem «Armenhaus Indien» im Norden. Es hat die höchste Lebenserwartung (76 Jahre), hundert Prozent Schulbesuch von Knaben und Mädchen, die tiefste Sterberate von Müttern und Kleinkindern. Als einziger Bundesstaat weist es eine höhere Geburtsrate von Mädchen auf (1’058 gegenüber 1’000 Knaben), Kasten- und Klassenspannungen sind dank einer erfolgreichen Landreform geringer als im Rest des Landes. Und: es hat die höchste Zahl von Zeitungslesern und die grösste Zeitungsdichte.
Es sind nicht nur diese Zahlen, die dem Staat das Etikett vom «Kerala-Modell» beschert haben. Es ist auch die Tatsache, dass er diese Leistung im Widerspruch zum typischen Verlauf einer erfolgreichen Modernisierung erbracht hat.
Für Sozialwissenschafter beginnt jede Modernisierung eines Landes mit industrieller Entwicklung, die dann die Ressourcen bereitstellt, um einen Sozialstaat zu finanzieren. Kerala ging nicht diesen Weg. Ihm gelang der Sprung zu einem Wohlfahrtsstaat ohne Industrialisierung. Bis heute findet man hier nur ganz wenige Fabriken (auch ein Grund, warum es für Besucher so attraktiv ist); viele Industrieunternehmen mussten wegen der militanten Gewerkschaftskultur ihre Tore schliessen. Die verarbeitende Industrie trägt gerade 20 Prozent zum Wirtschaftsprodukt bei, und die Hälfte davon kommt aus dem Bausektor.
Transfers von Auswanderern
Wie konnte dies gelingen? Kerala exportierte seine Arbeitskraft und finanzierte seine Sozialprogramme mit dem Rückfluss der Löhne aus den Erdölstaaten. Fast die Häfte des Sozialprodukts kommt von diesen Transfers, sei es über legale Kanäle, sei es, dass sie illegal ins Land kommen, mit Vorliebe als Goldtransfers. Vor einigen Tagen berichtete der «Hindu» von einem keralischen Passagier, der aus Kuwait kommend auf dem Flughafen von Cochin verhaftet wurde; er hatte im Gepäck mehrere Behälter mit Schokoladesauce - mit beigemischtem Goldstaub.
«God’s own country», könnte man mit der Tourismuswerbung angesichts dieser eleganten Abkürzung der Modernisierung ausrufen. Ein Keraler in meinem Ayurveda-Retreat war anderer Meinung und fügte trocken an: «...and the devil’s own playground». Er brauchte nicht weit auszuholen, um sich zu erklären. Die Antwort lag vor meiner Tür.
Plötzlich sah ich bei meinem Morgenspaziergang auch, wie viele dieser schönen Häuser leerstehen; die Besitzer, so mutmasste mein Bekannter, arbeiten vielleicht im saudi-arabischen Jeddah, und seine Familie lebt in einer Mietwohnung in Ernakulam, einem Stadtteil des keralischen Kochi. Viele Reisfelder, die diese grünen Siedlungsinseln wie eine sattgelbe See umfliessen, werden nicht mehr angebaut, oder der Reis wird von Erntearbeitern auf Platz gedroschen, und das Stroh wird liegengelassen – immer weniger Bauern halten Vieh.
Ungleichgewichte und Fehlentwicklungen
«Dichtbesiedelt und dünnbevölkert» kam mir als paradoxe Erklärung in den Sinn. Und die wenigen jungen Leute, die in den Dörfern leben, wollen nicht mehr in der Landwirtschaft arbeiten, weil sie zu gut ausgebildet sind und dort zu wenig verdienen würden. Nur noch ein Drittel der Bevölkerung ist in der Landwirtschaft tätig (einschliesslich des Plantagensektors), und Bauspekulation hat die Landpreise in unerreichbare Höhen geschraubt. Landwirtschaftsland in Indien, so der Journalist T.N. Ninan, kostet inzwischen bis zum Vierfachen des Preises in den USA.
In den Städten ist es nicht anders. Wir riefen eine (gutbetuchte) Freundin in Kochi an und fragten, ob wir bei unserer Rückreise bei ihr übernachten dürfen. Sie freute sich, doch dann fügte sie hinzu: «Vielleicht muss ich euch im Cochin Club unterbringen, denn ich habe keine Angestellten.» Auch die Dienstbotenwelt geht in Indien ihrem Ende zu, und Kerala zeigt einmal mehr den Weg. Beklemmend wird’s, wenn man diesen Trend neben die offizielle Zahl der Jobsuchenden setzt: 25 Prozent.
Der lokale Jobmarkt ist wegen fehlenden Fabriken klein, die Nachfrage aus dem Mittleren Osten nimmt ab. Gleichzeitig sind die Leute zu gut ausgebildet, um für die geringen Löhne zu arbeiten, die in Kerala im Vergleich zu den Erdölstaaten geboten werden. Das klassische Land des Arbeiter-Exports beschäftigt heute 1,5 Millionen Inder, die aus anderen Bundesstaaten einwandern, um die billige Arbeit auszuführen.
Dies ist in Ordnung, denn es schafft im armen Hinterland Indiens Einkommen. Trauriger ist, dass das Kerala-Modell ausgerechnet bei einem seiner Kern-Anliegen – dem «Empowerment» der Frauen – zu versagen scheint. Ein «staatlicher Feminismus» (so die Journalistin Sarita Varma im Magazin «Seminar») hat dafür gesorgt, dass die Frauen stark in der Vermittlung von Sozialdiensten einbezogen werden – so stark, dass die Männer weiterhin die Fachberufe beherrschen, weiterhin allein politisieren und die Frauen in die Haushalte zurückdrängen; keine einzige Keralerin hat einen all-indischen Bekanntheitsgrad.
Der Bundesstaat mit dem besten Gender Development Index Indiens zählt bei der Teilnahme der Frauen in der Lohnarbeit zu den schlechtesten. Was nichts Gutes bedeutet für den Schutz der Frau. Und so müssen wir Bewunderer des Kerala-Modells zwei weitere Statistiken verdauen, die uns Sarita Varma serviert: Kerala zählt mehr sexuelle Übergriffe gegen Frauen als Delhi, und, wen wundert’s, es ist Spitze bei der Selbstmordrate von jungen Frauen.