Mit der absoluten Mehrheit von rund 325 Sitzen, die sie errungen hat, ist die Partei Erdogans darauf angewiesen, die neue Verfassung, die sie jedenfalls erarbeiten will, zusammen mit der wichtigsten Oppositionspartei auszuarbeiten, der CHP.
Die CHP ist die einzige Partei, die in diesen Wahlen zugelegt hat, wie ihr neuer Chef, Kemal Kilicdaroglu, befriedigt feststellte. Seine Partei hat nun 135 Sitze gegenüber 110 im früheren Parlament. Die Wähler haben die Verjüngungskur, die sie durchmachte, zu schätzen gewusst.
Die AKP-Regierungspartei erhielt fünf Sitze weniger als im letzten Parlament (325 statt 330). Die dritte Partei der Türkei, die ultranationalistische MHP, hat mit 12 % der Stimmen die 10% Hürde genommen und ist auch ins Parlament eingezogen. Doch musste sie sich mit 54 Sitzen begnügen, gegenüber 71 im vorausgehenden Parlament. Die "unabhängigen" Kurden, die mit Zustimmung der Kurdenpartei BDP kandidierten, erzielten ein bemerkenswertes Resultat von 35 Sitzen. Sie selbst bezeichneten dies als „grossen Erfolg für uns“.
Erdogan zur Zusammenarbeit bereit
Erdogan selbst hat sofort nach der Auszählung der Stimmen seinen Wahlsieg mit der zu den Umständen passenden Mässigung kommentiert. Die AKP, sagte er, werde "bescheiden" auftreten und die Zusammenarbeit mit der Opposition für die Formulierung einer neuen Verfassung suchen.
Dies ist auch der Grundton der Zeitungskommentare. Viele der Beobachter sehen den Ausgang positiv, weil er die Regierungspartei dazu zwingt, alle nur möglichen Anstrengungen zu unternehmen, sich mit der Opposition zu verständigen, um gemeinsam mit ihr eine klarer demokratisch ausgerichtete Verfassung zu formulieren, wie sie das Land nach dem Dafürhalten beinahe aller Politiker und der grossen Mehrheit seiner Bevölkerung braucht.
Es gibt gemeinsame Ziele
Auch die nun verjüngte und dynamisierte CHP, die Republikanische Volkspartei Kilicdaroglus, die sich links von der Mitte ansiedeln will, strebt mehr und offenere Demokratie für die Türkei an. Dadurch ist ein gemeinsamer Nenner für Regierungspartei und Opposition gegeben. Es geht nun darum, die klaffende Wunde zwischen "islamischer" und „laizistischer“ Ausrichtung zu heilen. Diese verschiedenen Ausrichtungen haben das Land seit Erdogans Amtsantritt gepalten. Jetzt geht es erst einmal darum, die Gegensätze zu überbrücken, und zwar im Interesse des gemeinsamen Wunsches nach einer funktionierenden, transparenten und möglichst gerechten Demokratie.
Dringliche Lösung des Kurdenproblems
Ohne eine Lösung der Kurdenfrage wird es allerdings nie echte und völlegültige Demokratie in der Türkei geben. Auch dafür stehen die Zeichen besser als je zuvor. Die CHP hat neue Ideen im Sinn einer Dezentralisierung der gesamten Türkei formuliert. Die Kurden selbst sind in der Lage, ein gewichtiges Wort im Parlament mitzusprechen. Erdorgan wird seine Konfrontationspolitik gegenüber den Kurden, wie er sie im den beiden letzten Jahren geübt hat, mässigen müssen, wenn er sein Ideal einer echten und gerechten demokratischen Ordnung für die Türkei verwirklichen will.
Wenn es nicht bald zu einer allen Seiten annehmbaren Lösung der Kurdenfrage kommt, besteht die Gefahr eines Rückfalles des gesamten Landes in die Zeit, als die Generäle die zivile Politik kontrollierten. Die PKK, die heute jenseits der Grenze im irakischen Kurdistan unter Waffen steht, würde sich erneut durch Terrortaten in den Vordergrund spielen. Die Armee würde darauf antworten und sich erneut für den Kurdenkampf mobilisieren. Im Zug eines erneuten »nationalen« Kurdenkrieges würden sie politisch mehr Gewicht erhalten, vielleicht so sehr, dass die zivile Politik wieder einmal in ihren Schatten geriete.
Ähnliches gilt von der heiss umstrittenen Frage der Religionspolitik. Hier ist der neue Oppositionschef, Kilicdaroglu, Spross einer alewitischen Familie aus der kurdischsprachigen Ostprovinz Tunceli, in der Lage, eine allzu einschränkende Definition dessen, was Islam sei, zu erweitern, indem er deutlich macht, dass dieser Begriff viel mehr umfassen kann als nur gerade das eng orthodoxe Selbstverständnis der sunnitisch-fundamentalistisch geprägten Variante der islamischen Weltreligion.