Entzündet hat sich die Diskussion nicht etwa an einer brisanten Aufführung oder an tollkühnen Visionen eines Theatermanns oder einer Theaterfrau. Nein: Entzündet hat sich die Diskussion an der Tatsache, dass das von der Stadt Zürich subventionierte Theater am Neumarkt in der Saison 2012/2013 schlechte Zahlen schrieb, eine miserable Platzausnutzung zu beklagen hatte. Im „Tages-Anzeiger“ wurde angeregt, die Subventionspolitik zu überdenken und zwar unter der Prämisse, dass sich die Stellung des Theaters in der Gesellschaft radikal geändert habe. Die etablierten und indirekt auch anvisierten Bühnen, das Zürcher Schauspielhaus zum Beispiel, witterten existenzbedrohende Ansinnen und verteidigten den Besitzstand. Vertreter freier Truppen verlangten ihren Anteil am Kuchen und beklagten hierarchische oder bürokratische oder institutionalisierte Gängelung und daraus resultierende Benachteiligungen.
Eine Debatte, die diesen Namen verdient, kam nicht wirklich in Gang, von Leidenschaft in der Diskussion keine Spur; mit Statistiken und Zahlen wurde gefochten, mit Sachzwängen argumentiert. Inspirierend war das nicht, was da verhandelt wurde – und dabei ging und geht es doch um etwas, das ohne Inspiration nicht auskommt, ja, das von ihr lebt!
Deutungshoheit?
Ob das Theater je eine Orientierungsfunktion, eine Deutungshoheit für die Gesellschaft innehatte, wie das in der Diskussion behauptet wird, weiss ich nicht. Ihm diese Deutungshoheit abzuerkennen und sie stattdessen und für unsere Zeit dem Film, der Kunst und den beliebten Fernsehserien zuzuschreiben, wie das auch moniert wurde, halte ich für eine sehr abenteuerliche Idee. Deutungshoheit für relevante gesellschaftliche Gruppierungen kann heute wohl keine Kunstsparte mehr für sich in Anspruch nehmen. In unseren postmodernen aufgesplitterten Gesellschaften, in denen alles geht oder nicht geht, alles für möglich oder unmöglich erklärt wird, wüsste ich nicht, welcher Filmemacher, Künstler oder TV-Produzent sich auf Dauer als Instanz etablieren könnte, der man eine Orientierungsfunktion abnimmt. Und ausserdem: Sind nicht gerade die Aufführungen die spannendsten, die eben nichts deuten, wissen, beweisen, sondern einen mit Rätseln, mit Fragen und Widersprüchen eindecken?
Theater erfindet sich ständig neu, auch heute. Im Stadttheater so gut wie in der freien Szene. Die beiden Institutionen gegeneinander auszuspielen, wie es im Verlauf der Debatte getan wurde, wirkt antiquiert. Längst haben die Trümpfe der freien Szene – Lust am Experiment, multimediale Elemente, das Aufgreifen von aktuellen Themen, die schnelle Reaktion darauf – die Stadttheater erobert, längst dominiert in den subventionierten Häusern ein Mix aus allen möglichen theatralischen Formen, längst sind es junge Regisseure, Regisseurinnen gewohnt, mal in einem Schauspielhaus, mal in der freien Truppe zu inszenieren. In umgekehrter Richtung, also vom Stadttheater hin zur freien Truppe gibt es wenig Bewegung, kaum Einflüsse. Was manchmal durchaus zu bedauern ist. Genauso wie einen sterile oder klamaukige Shakespeare-Aufführungen im subventionierten Haus langweilen können, ärgert man sich über grobschlächtige Produktionen der freien Szene, Produktionen, die nicht mit der nötigen Sorgfalt erarbeitet wurden; mangelnde Qualität immer nur mit den prekären Verhältnissen zu erklären, mit denen das freie Theater notorisch zu kämpfen habe, das greift zu kurz.
Verändertes Publikum
Gewandelt, wie das Theater, hat sich natürlich auch sein Publikum. Es mag ja sein, dass man im Schauspielhaus Zürich mehr Grauhäupter pro Aufführung antrifft als, sagen wir, am Theaterspektakel. Aber wer behauptet, man habe es, heute wie gestern, in den subventionierten Häusern mehrheitlich mit einem bourgeoisen Bildungsbürgertum zu tun, der hängt an einem alten Klischee, das so nicht mehr stimmt. Der bourgeoise Bildungsbürger von anno dazumal (und damit meine ich die 60er, vielleicht noch die 70er-Jahre des vergangenen Jahrtausends), ein zuverlässiger Theaterbesucher, der seine mumifizierte Klassik verlangte, im Abonnement, und dabei durchaus eine Leidenschaft fürs Gezeigte und Konsumierte entwickeln konnte, den gibt es nicht mehr. Dem blieb gar nichts anderes übrig, als sich zu verändern oder ganz wegzubleiben. Dem wurde – alles im subventionierten und etablierten Haus – Gewalt und nacktes Fleisch, Publikumsbeschimpfung, dröhnende Musik, Textzertrümmerung, Dekonstruktion und Persiflage jeder Art vorgesetzt; der hat in den vergangenen dreissig Jahren gelernt, eine Art von Theater zu verstehen und vielleicht zu mögen, das mit bourgeoisem Bildungsbürgertum nichts, aber auch gar nichts am Hut hat.
Wer das Theater in seinen Metamorphosen liebt, wer es braucht, sich von ihm anregen, inspirieren, verunsichern, ärgern lassen will, der tut heute gut daran, sich nicht auf eine Bühne, eine Truppe, einen Ort, eine Institution zu fixieren. Einmal wird er es zu schätzen wissen, dem perfekt ablaufenden Prozess eines eingespielten Ensembles beizuwohnen und das wird ihm nur ein subventioniertes Haus garantieren, das sich langes Probieren und die Verpflichtung der besten Schauspieler leisten kann. Ein anderes Mal wird er noch so gerne der Verführung eines inspirierten Spektakels der freien Szene erliegen.