Putins Überfall auf das «Brudervolk» hat den Westen vor eine Entscheidung gestellt: Entweder er gesteht Russland das Recht zu, in der Ukraine seine Interessen durchzusetzen, oder er verteidigt Völkerrecht und staatliche Souveränität als weltpolitische Grundsätze. Die Antwort kann nur sein, die Idee von Einflusssphären ganz grundsätzlich zurückzuweisen.
Russland und viele Russlandversteher rechtfertigen den Überfall auf die Ukraine mit «Sicherheitsinteressen». Die Ukraine liege in der russischen Einflusssphäre. Daher sei es das legitime Interesse Russlands, die Ukraine zum Verzicht auf den gewünschten Nato- und EU-Beitritt zu veranlassen. Und weil das Sicherheitsbedürfnis Russlands so dringend sei, müsse man es als legitim oder zumindest als verständlich betrachten, wenn Russland diesen Verzicht dadurch erzwinge, dass es die ukrainische Souveränität mit militärischen Mitteln unterdrücke.
Mit Einflusssphären argumentieren nicht nur das russische Regime und seine westlichen Claqueure. Auch viele Analytiker gefallen sich in einem Realismus, der das geopolitische Kräftespiel nicht nur beobachtet, sondern zur nicht zu hinterfragenden Gegebenheit erhebt. Sie glauben denen, die sich auf Völkerrecht, Uno-Charta und einschlägige Abkommen berufen, etwas vorauszuhaben, wenn sie Teile der Welt als russische (oder amerikanische oder chinesische) Einflusssphären definieren, in denen man wohl oder übel andere Regeln als im Rest der Welt anerkennen müsse. Ihre Logik sieht dann so aus: Wenn Russland die Ukraine zu seiner Einflusssphäre erklärt, dann ist sie es; und der Westen wie insbesondere die Ukraine selbst haben sich danach zu richten. Tun sie es nicht, so sind sie selber schuld, wenn es Krieg gibt.
Das Beanspruchen von Einflusssphären ist an sich schon ein massiv unfriedliches Verhalten. Zudem ist seine Logik expansiv: Mit gutem Grund fürchten Moldawien, Georgien und andere Anrainer Russlands dessen geweckten Appetit, falls es die Ukraine unterwerfen könnte. Etwas anderes als die volle Handlungs- und Bündnisfreiheit aller souveräner Staaten ist deshalb nicht akzeptabel.
Ein solcher Grundsatz ist für viele «Realpolitiker» und Russlandfreundinnen tabu. Als Rechtfertigung verweisen sie mit der Argumentationsfigur des Whataboutism auf die von den USA beanspruchten Einflusssphären. Die Konsequenz einer solchen Sichtweise könnte nur heissen: Grossmächte sind nun mal so, also hat man sich damit zu arrangieren.
Putins Krieg in der Ukraine sollte etwas anderes lehren. Der angesichts des völkerrechtswidrigen Überfalls geeinte Westen muss die Kraft seines gemeinsamen Widerstands gegen den Aggressor dazu nutzen, die Souveränitätsrechte sämtlicher Staaten solidarisch zu festigen und die Idee von Einflusssphären grundsätzlich zurückzuweisen. Es muss selbstverständlich sein, dass die Ukraine – genauso wie Finnland oder Schweden oder Georgien – ihre Bündnispolitik selbst bestimmen kann.
Die Frage, wo ein Land liegt und an wen es grenzt, darf dabei keine Rolle spielen. Geopolitik ist eine beschreibende Disziplin, keine normierende Instanz. Bündnisse sind auch nicht per se aggressiv. Sie können mit Transparenzvereinbarungen, Rüstungskontrollen und gegenseitiger Abrüstung stabilisierende und friedenserhaltende Wirkungen haben.
Auf diesem Weg war man schon mal ein bisschen weiter vorangekommen, und dahin muss die Weltpolitik erst wieder gelangen, um den Pfad zur Friedenssicherung fortzusetzen. Appelle werden nicht genügen. Fortgesetzte Unterstützung des militärischen und zivilen Widerstands der Ukraine genauso wie das scharfe und noch weiter zu verschärfende Sanktionsregime gegen Russland bis hin zum totalen Embargo werden notwendig sein, um Putin zu stoppen und die Souveränität der Ukraine zu retten. Geschieht dies nicht, geht Europa düsteren Zeiten entgegen.