Israels Premier Netanjahu beschwört es fast jeden Tag: Hamas muss total vernichtet werden. Nach fast schon drei Monaten Krieg, der Zerstörung von 70 Prozent der Behausungen im engen Gaza-Streifen und der Vertreibung von rund zwei Millionen Menschen innerhalb des Gebiets von der Grösse des Kantons Schaffhausen aber existieren sowohl die Hamas-Führungskader als auch 26 der einst 30 Kampfbataillons (Umfang gemäss dem US-amerikanischen «Institute for the Study of War» je zwischen 400 und 1000 Mann) noch immer.
Und statt dass bei den Palästinensern im vom Krieg nicht direkt betroffenen Westjordanland die Erkenntnis reifen würde, dass der Radikalismus von Hamas in eine Sackgasse führt, wächst innerhalb der dortigen drei-Millionen Bevölkerung die Popularität für die Terror-Gruppe markant.
Das «Palästinensische Zentrum für Politik und Umfrageforschung» (PSR) stellte Mitte Dezember einen Anstieg von Zustimmung für Hamas von 12 Prozent (Recherche von September, also noch vor der Massenmord-Attacke von 7. Oktober) auf 44 Prozent fest. Nachgefragt, warum sie oder er bei allfälligen Wahlen für die Terror-Organisation votieren würde, erhielten die Forscher die Antwort: weil ihre eigene Behörde, die von Mahmud Abbas geführte Fatah-Autonomie-Behörde, keine Verbesserung des Alltagslebens zustande gebracht habe und in Wirklichkeit mit den israelischen Sicherheitskräften kooperiere. Also bleibe nur Hamas als Hoffnungsträger.
300 tote Palästinenser im Westjordanland
Seit dem 7. Oktober, als Israel mit den Vergeltungsangriffen im Gazastreifen begann, kamen mehr als 300 meistens jugendliche Palästinenser im Westjordanland durch Schüsse des israelischen Militärs (das Demonstrationen zugunsten von Hamas unterdrücken will) und Auseinandersetzungen mit israelischen Siedlern ums Leben. Rund 8000 wurden festgenommen, und viele von ihnen befinden sich jetzt, um den Jahreswechsel, in Administrativhaft, was bedeutet, dass sie ohne Anklage für mindestens sechs Monate, möglicherweise aber auch für unbeschränkte Zeit im Gefängnis bleiben.
Bei Angehörigen der Inhaftierten und der Todesopfer wachsen offenkundig Verständnis und Sympathie für Hamas besonders markant. Journalisten vor Ort stellten fest, dass viele Palästinenserinnen und Palästinenser im Westjordanland nicht wahrhaben wollen, dass Hamas am 7. Oktober 1200 Israeli ermordet hat – das Massaker hätten wohl radikale Zivilisten aus dem Gaza-Streifen begangen, lauteten Antworten bei Interviews. Wieder andere sagten bei Gesprächen mit Reportern der «Zeit», die Gewaltexzesse seien eine verständliche Reaktion von Menschen, die in Gaza seit Jahren unter der von Israel verfügten Blockade gelitten hätten.
Smotrich: «From the river to the sea»
Es gibt Unterschiede, es gibt aber auch Gemeinsamkeiten für den Alltag in Gaza und im Westjordanland. Wer in Nablus, Ramallah oder Bethlehem lebt, kann, auch wenn das mit grossen administrativen Schwierigkeiten (die Palästinenser sagen Schikanen) verbunden ist, sowohl im eigenen, 5800 km2 grossen Gebiet, als auch ins Ausland reisen. Der Alltag aber wird, und das in immer drastischerer Art, bestimmt durch die Parzellierung des Westjordanlands durch die ständig wachsende Zahl von jüdischen Siedlungen. 700’000 Israeli leben, zählt man die Einwohner von Ost-Jerusalem dazu, im palästinensischen Gebiet.
Die Zahl der Siedlungen (die in Wirklichkeit mehrheitlich kleinere und mittelgrosse Städte mit der entsprechenden Infrastruktur geworden sind) stieg in den letzten Monaten rasant an – aufgrund der innerhalb der Regierung von Premier Netanjahu immer einflussreicher gewordenen nationalreligiösen Rechten, unter denen Finanzminister Bezalel Smotrich besonders hervorsticht. Er steht offen zum Ziel, nicht nur die Palästinenser aus dem Gazastreifen zu vertreiben, sondern auch das Westjordanland zu annektieren. Er will also letzten Endes ein Land «from the river to the sea», in spiegelbildlicher Umkehr der Parole von Hamas, die ebenfalls ein Land vom Fluss (damit ist der Jordan gemeint) bis zum Meer fordert, ausschliesslich für Palästinenser gemäss Hamas, ausschliesslich für Israeli gemäss Smotrich.
Der «Block der Gläubigen»
Wovon leitet er diesen Anspruch ab? Er und andere Nationalreligiöse verweisen auf biblische Textstellen, in denen dem jüdischen Volk «Eretz Israel» zugewiesen wurde, und zwar als göttlicher Befehl nicht im Sinn eines Dürfens, sondern einer Verpflichtung. Der «Block der Gläubigen», Gush Emunim, 1974 als eine ausserparlamentarische Oppositionsgruppe gegründet, wollte diese Lehre von Anfang an konsequent befolgen und kämpfte folgerichtig für die möglichst baldige und möglichst umfassende Besiedlung des Westjordanlands.
Anfänglich wurde dieser Block nicht ernst genommen, weder bei der Mehrheit der Israeli noch von aussen. Als mir in jenen Jahren ein junger Gush-Emunim-Anhänger bei einem Interview in Hebron sagte: «Wenn Sie über die Rechte auf dieses Gebiet reden wollen, können Sie sich nur an einen wenden – an Gott», fand ich das eher belustigend als ernst zu nehmen. Doch bald gewann der Block an Bedeutung und Einfluss. Deutlich wurde es ab 1977, als Menachem Begin mit seinem rechts-konservativen Likud-Block Regierungschef wurde.
Hamas: «Min an-nahr ilaa al bahr»
Siedlungen im palästinensischen Westjordanland gab es zwar schon vorher – errichtet in den Jahren unter diversen Regierungen der israelischen Arbeiterpartei. Aber das waren sicherheits-strategische Siedlungen, deren Zweck es war, die militärische Kontrolle über das auch damals spannungsreiche Gebiet zu behalten. Dann kam, im Verlauf der Jahre, ein wirtschaftliches Element hinzu: Der Wohnraum in Ballungszentren wie Jerusalem oder Tel Aviv wurde knapper, die Preise stiegen, komfortable Wohnungen in Siedlungen ein paar Kilometer entfernt, im Westjordanland, aber waren günstig zu haben. So zogen Zehntausende israelische Familien um, mehrheitlich nicht aus ideologischen oder religiösen Gründen.
Aber die Religiösen folgten bald in grösserer Zahl – israelische Männer und Frauen, für die das Leben im ganzen Gebiet von «Eretz Israel» ein Gebot darstellt. Etwa 10 Prozent streng Religiöse umfasst die israelische Bevölkerung jetzt innerhalb der 700’000 Sie sind zwar eine Minderheit, aber diese Minderheit ist es, die alle denkbaren Kompromisse in Richtung einer Zwei-Staaten-Lösung ablehnt. Die, mit anderen Worten, eine solche Lösung blockieren würde – so, wie auf der Gegenseite Hamas mit dem Total-Anspruch auf ein Land «min an-nahr ilaa al bahr», vom Fluss (Jordan) bis zum Mittelmeer, jede denkbare Deblockierung der verfahrenen Lage verunmöglicht.
Israels Armee ist nicht so überlegen wie angenommen
Doch eine andere als die Zwei-Staaten-Lösung gibt es nicht. In Israel wäre zwar nur noch eine kleine Minderheit bereit, einen eigenständigen Palästinenserstaat zu akzeptieren, aber global werden die Stimmen immer deutlicher, die auf der einen Seite Israels Regierung zum grossen Schritt drängen (US-Präsident Biden ist die gewichtigste), anderseits von der palästinensischen Seite fordern, die mörderische Hamas-Ideologie zu überwinden.
Wenn das nicht gelingt, droht die Zerstörung beider Gemeinschaften. Denn Israels Armee, Israels gesamter Sicherheitskomplex ist nicht so überlegen gegenüber den feindlichen Kräften in der Region wie angenommen. Ein Krieg mit der libanesischen Hizbollah (eine Eskalation dieser Art droht tagtäglich) wäre noch schwieriger als der gegenwärtige mit Hamas, und wenn sich die Lage im Westjordanland nicht beruhigt, droht dort ein Konflikt mit vergleichbarer Heftigkeit wie jetzt im Gazastreifen.
Hunderttausende Tote: Das könnte Israel nicht verantworten
Premier Netanjahu äusserte zwar, der Krieg gegen Hamas werde noch Monate dauern – und der Sprecher des israelischen Militärs sagte sogar, er könne sich über das ganze Jahr 2024 hinziehen. Aber ist das realistisch? Würde die 2,2-Millionen-Bevölkerung des Küstenstreifens nochmals monatelang wie auf einem Schachbrett hin und her getrieben, müssten Hunderttausende sterben – das könnte Israel, selbst nach der entsetzlichen Erfahrung des Hamas-Massenmords vom 7. Oktober, gegenüber jener Staatengemeinschaft, mit der es sich verbunden fühlt und die sich der Demokratie und der Beachtung der Menschenrechte verpflichtet hat, nicht verantworten. Und sollte sich der Gaza-Krieg wirklich noch um Monate hinziehen, schwinden auch die Überlebenschancen der etwa 140 israelischen Geiseln in den Verliesen unter den Trümmerfeldern der Städte im Küstenstreifen. Wie wird, wie würde Premier Netanjahu das gegenüber der eigenen Öffentlichkeit rechtfertigen?
Fazit: Die militärischen Optionen stossen an ihre Grenzen. Und was die politischen betrifft, hat noch kein Politiker, keine Politikerin, weder in Israel noch im Ausland eine Alternative zur «alten» Zwei-Staaten-Lösung gefunden.