Oft wurden wir beneidet um unseren provisorischen Wohnsitz in der Schweiz am westlichen Rande der Partymeile von Lausanne. Diese erstreckt sich von der kleinen Altstadt unter der Kathedrale westwärts über Le Flon, ehemaliges Gewerbegelände mit angesagten Läden und Lokalen, zum Gebiet des alten Rangierbahnhofes Sebeillon, wo «Les Docks» und «Arsenic» Techno- ebenso wie Theaterfreunde anziehen. Beneidet um was? fragen wir dann. Wir, das sind meine Frau, als Welschfreiburgerin im zweisprachigen Biel aufgewachsen, und ich, seit Jahren auch in Frankreich heimischer Zürcher.
Negative Schlagzeilen
Die Schlagzeilen über Lausanne fallen leider klar negativ aus. Mit 218 Straftaten pro 1’000 Einwohner steht die Stadt offiziell an der Spitze der schweizerischen Kriminalstatistik. Aus subjektiver Perspektive kann ich diese niederschmetternde Bilanz nur bestätigen.
Nach einem erfolgreichen und einem versuchten Einbruch ins Privatauto mussten wir einen teuren Einstellplatz in einer nahen Parkgarage mieten. Der Heimweg führte nun durch das wohl grösste Freilicht-Bordell der Schweiz, die vom Besitzer SBB dem Verfall überlassene Place de Sévelin, wo leichte Mädchen ihre Ware feil halten, herangekarrt von schweren Jungs mit oft osteuropäischen Nummernschildern. Von «Verrichtungs»- oder anderen Holzboxen keine Spur; verrichtet wird dort allerdings einiges. Der Dreck, die generelle Verwahrlosung der Umgebung und der nächtliche Lärm würden in älteren Einwohnern aus dem «Chreis Cheib» in Zürich wohl ungute Erinnerungen aufsteigen lassen, an Platzspitz-Zeiten etwa.
Dabei wird das Quartier tagsüber von Schülern und Studenten dominiert. Die drei offiziellen Gewerbeschulen und das grösste Gymnasium von Lausanne liegen alle in einem Umkreis von rund 500 Metern. Bei den Wohnblöcken wechseln sich «gute» Nummern mit zahlreichen Studentenwohnungen – Uni Lausanne und EPFL (die welsche ETH) liegen etwas weiter westlich, wo indes noch kaum Wohnraum besteht – ab mit eher verwahrlosten Gebäuden, wo offensichtlich weder Schneewittchen noch die sieben Zwerglein ein- und ausgehen. Allenfalls schon eher die «mules» der Grosshändler, denn irgendwo müssen ja die Drogen, welche in der Altstadt angeboten werden (Riponne, Bourg) portioniert werden. Man könnte sich fragen, ob die zahlreichen Kebabbuden und Spezialgeschäfte in unserer Nachbarschaft allein vom Verkauf ihrer Kohlköpfe, ihrer orientalischen Rauchwürste und dem Dufttabak für Wasserpfeifen leben.
Sprachengewirr und Überforderung
Nicht dass das internationale Flair unserer Nachbarschaft etwa nur negative Seiten hätte. Sie spiegelt ganz einfach jene Seite der heutigen helvetischen Realität, welche vom Rütli aus gesehen wohl so gut wie unbekannt ist. Eine Realität, wo abends nach Abzug der Schüler Waadtländer Französisch eine Minderheitensprache wird und einem modernen Babel fast untergeht. Einem Sprachengewirr mit Schwerpunkten auf Portugiesisch, Türkisch und Spanisch von Gastarbeiter-Secondos und Latinos, dem Afar, Amhar und Somali der Asylbewerber vom Horn Afrikas und dem Albanisch von Kosovaren.
Grösstes Problem im kleinräumigen Lausanne scheint nicht die Vielfalt zu sein, sondern deren unkontrollierte Auswucherungen. Wie beim Strafvollzug hat die Waadtländer Justiz und Polizei offensichtlich sowohl ein quantitatives (zu kleiner und den heutigen Herausforderungen nicht angepasster Apparat) wie ein qualitatives (falsche Schwerpunkte in der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung) Problem. Dass dies nun ändere, wird zwar oft markig versprochen, dürfte aber noch eine Weile dauern.
Dafür symbolisch ist ein Bild aus einem andern Mangelbereich, dem trotz Verbesserungen (Lausanner Metro) noch nicht befriedigenden öffentlichen Verkehr: Unser Quartierbus, durch Verkehrstaus oft erratisch und generell nicht besonders häufig verkehrend, trug monatelang die stolze Aufschrift «Im Jahr 2018 (sic!) werde ich ein Tram sein». Dies ist die Realität hiesiger langfristiger Verkehrspolitik.
Politischer Niedergang
Zurückzuführen ist sie unmittelbar auf Schwäche, Müdigkeit, und wohl auch unzureichende Qualität in der Stadtpolitik. Deren Vorsteher, Syndic Brélat, symbolisiert diesen Niedergang. Einst lokal und national als einer der ersten grünen Nationalräte für viele ein Hoffnungsträger, zeigen ihn aktuelle Medienbilder als schwergewichtigen Nachmittagsschläfer im Regierungssessel des Grossrates.
Aber auch grundsätzlich hat die hiesige Politik mit dem Wandel der Gesellschaft nicht Schritt gehalten. Die Anstrengungen sind einseitig darauf gerichtet worden, hohe international Klasse an die ja wirklich schönen Ufer des Genfersees einzuladen. Dies auch mit den bekannten Vergünstigungen aller Art, welche mindestens ebensoviel Belastung als Finanzierung von öffentlicher Infrastruktur mit sich bringen. Von den Auswirkungen auf Preise und Mieten ganz zu schweigen.
Darob ging zudem vergessen, dass Öffnung dynamisch ist und, einmal ausgelöst, sich nach eigenen Gesetzen entwickelt. Neudeutsch und schlagwortartig zusammengefasst, kommt mit High-Tech auch low Life. Offensichtliche Prosperität hat auch ihre hässliche Unterseite.
Hoffnungsschimmer
Die traditionelle Waadtländerart, Probleme bei einem gemütlichen coup de blanc, einem Gläschen Fechy unter Gleichgesinnten gütlich zu regeln, hat ausgedient. Lausanne hat über die zwanzig letzten Jahre die Welt gerufen. Jetzt ist sie da, sollte nun aber auch besser verwaltet und integriert werden.
Hoffnung besteht. Von unserem obersten Stock aus gesehen, wachsen, wo Fabriken und Werkstätten standen, rundum neue Betonmauern oder doch Baugespanne – so auf der besagten Place de Sévelin – für Hunderte von neuen Wohnungen in die Höhe.
Wie immer schon vorgesehen, ziehen wir nun um vom Lac Léman an beschaulichere Seegestade im Berner Oberland. Wir werden aber die Entwicklung von Lausanne Ouest weiter im Auge behalten. Eine Entwicklung hoffentlich doch in die gleiche Richtung wie in Zürichs Westen.