Petra Volpe, schweizerisch-italienische Regisseurin und Autorin, hat mit ihrem Spielfilmerstling manche Kritiker und Kritikerinnen ins Schwärmen gebracht. Kein Wunder: Wann hat es denn zuletzt eine Schweizer Kinoproduktion gegeben, die ein brennendes gesellschaftliches Thema mit solch kompromissloser Entschlossenheit und derartiger visueller Kraft auf die Leinwand brachte? Das Medienecho auf «Traumland» ist geradezu begeistert, die Rezensionen sprechen von einem berührenden, ja aufwühlenden Kinoerlebnis.
Man pflichtet dem Lob gerne bei. Und wenn hier zu dem Film trotzdem ein paar kritische Fragen gestellt werden, so geschieht es nicht aus dem Bedürfnis, sich vom Mainstream der Kritik um jeden Preis abzusetzen. Es sollen auch nicht die unstreitigen Stärken dieses Films gewissermassen im zweiten Anlauf in Zweifel gezogen werden. Nun denn: erst das Positive.
Umfeld der Prostitution in den Blick genommen
«Traumland» thematisiert das Los eingeschleuster Prostituierter, die ihren Zuhältern schutzlos ausgeliefert sind. Dies allein würde den Film noch nicht herausheben, denn solches zeigt auch gefühlt jeder siebte Fernsehkrimi, und oft gar nicht mal so schlecht. Das besondere an Petra Volpes Film ist die Art, wie er seine Thematik einbettet in ein weit gefasstes Zeitbild. Diese Kinoerzählung nimmt sich vor, einer kranken Gesellschaft die Diagnose zu stellen und nimmt zu diesem Zweck das soziale Umfeld, in welchem Prostitution sich abspielt, in den Blick.
Die 18jährige Bulgarin Mia, überzeugend verkörpert von Luna Mijovic, landet auf dem (inzwischen aufgehobenen) Zürcher Strassenstrich und wird von zwei mit ihr eingewanderten Landsleuten wie eine Sklavin gehalten. Ihre Tochter hat sie in der Heimat bei der Mutter zurückgelassen, und sie lebt darauf hin, sie in kürze besuchen zu können.
Entlarvter Saubermann, armer Hund
Um diese zentrale Erzählung herum sind vier weitere Geschichten angeordnet. Der Film exponiert sie erst langsam, geradezu bedächtig, bevor er anfängt, die Stränge zu verknoten und so allmählich an Dynamik gewinnt. Da ist die hochschwangere Lena (Ursina Lardi), die mit Söhnchen und Ehemann, einem Arzt, im Schöner-Wohnen-Bungalow haust und als soziale Antipodin Mias deren Elend unterstreicht. Nachdem Lena im Familienauto eine Gleitcreme-Packung findet, ist der Saubermann entlarvt und die Ehe im Vollbrand – ähnlich dem Christbaum, der in der einleitenden Partie aus einem obersten Stock geflogen kam. Es ist nämlich Weihnachten und dauernd dunkel, nass und kalt.
Ein weiterer Freier Mias ist Rolf (André Jung). Seine Frau hat ihn vor einem Jahr sitzen lassen. Die mit einem dumpfen Typen von Freund aufkreuzende Tochter will nicht mit ihm reden. Mit dem im Altersheim dahinvegetierenden Vater hat Rolf sich überworfen. Man kennt ihn, diesen hündischen Blick des ewigen Verlierers. In seiner Einsamkeit überredet er Mia, ihn gegen gute Bezahlung am Weihnachtsabend zum Essen zu besuchen.
Frauen in scheiternden Beziehungen
In dem beim Strassenstrich als Anlaufstelle dienenden Container der Organisation «Oase» führt die robuste Sozialarbeiterin Judith (Bettina Stucky) als Mutterfigur das Regiment. Unvermittelt stattet der Film sie mit einem etwas vordergründigen Doppelleben aus: Nach Dienstschluss frönt sie, statt zum wartenden Freund ins idyllische Heim zu fahren, ihren Lüsten beim anonymen Sex im Hotelzimmer. Dem offenbar notorischen Treiben ist Judiths Freund jedoch auf die Schliche gekommen, und als sie zuhause ankommt, kracht die Beziehung mit Getöse.
Komplexer und subtiler ist die letzte Einheit dieses Geschichtenkranzes angelegt. Mias spanische Wohnungsnachbarin, eine gepflegte, aber verhärmte verwitwete Dame (die Almodovar-Darstellerin Marisa Paredes), empört sich über die Ausbreitung des Rotlichtmilieus in Haus und Viertel. Sie lässt Mia dies spüren, scheut sich aber nicht, bei verstopftem Abfluss in ihrer Wohnung die Hilfe des benachbarten Zuhälters in Anspruch zu nehmen. Mit der Tochter, die in Hongkong eine Business-Karriere hinlegt, verbindet sie sich über Skype zum angestrengten Smalltalk, bis sie unvermittelt den Laptop zuschlägt. Auch sie fürchtet sich vor dem Alleinsein an Weihnachten und lädt einen von der Kirche her bekannten ebenfalls verwitweten Landsmann zu sich ein. Trotz ihrer hingebungsvollen Vorbereitung misslingt das Tête-à-tête auf tragisch-groteske Weise.
Das Traumland ist anderswo
Der Film braucht viel Zeit, um diese fünf narrativen Knäuel zu exponieren, doch das Publikum gesteht sie ihm zu, da er die atmosphärische Dichte nie verliert. Es ist ein kaltes Zürich, das er zeigt, und er erzählt von erkalteten Menschen, die keine Träume, sondern nur Bedürfnisse haben: solche nach Nähe, Wärme, Berührung, Befriedigung, Lust. Das Traumland ist anderswo, nämlich dort, wo Mias Tochter wartet.
Nach und nach verknoten sich die Stränge der fünf Geschichten ineinander. Der Film wird schneller, und er läuft auf Mias Sturz ins Bodenlose zu. Die Abwärts-Dramaturgie erscheint unausweichlich, da es in dem vom Film evozierten sozialen Kosmos höchstens kleine humane Gesten, aber keine Humanität geben kann.
Menschliche Einfühlung und anklagende Moral
Petra Volpes Entscheid, die Geschichte so zu erzählen, ist nicht zu kritisieren. Das schwarze Drama inmitten des saturierten Zürich ist dem Thema zweifellos gemäss. Was nicht in allen Teilen überzeugt, das sind die erzählerischen Wendepunkte, die den Sturz in die Tiefe auslösen. Es wirkt wenig motiviert, wenn Rolf die bei ihm zum Essen erscheinende Mia rüde aus der Wohnung wirft, nachdem sie eine ganze Weile zusammen am Tisch sass mit dem inzwischen unverhofft doch anwesenden alten Vater und der wegen Stress mit ihrem Freund ebenfalls aufgetauchten Tochter. Ähnlich schwer verständlich ist das plötzlich ganz abgründig bösartige Verhalten der Spanierin gegen Mia, mit dem sie dieser unwissentlich eine letzte Möglichkeit des Ausscherens aus dem Verhängnis versperrt.
An solchen Schwachstellen zeigt sich, dass die Verbindung zwischen dem einfühlenden Erzählen und der intendierten Moral nicht ganz gelungen ist. Petra Volpe versuchte beides zu machen: einen sorgfältig beobachtenden, menschlich verstehenden und einen moralisch anklagenden, die Schuldigen denunzierenden Film. Nun sind beide Elemente in «Traumland» in starker, für sich genommen jeweils überzeugender Art präsent. Aber sie finden nicht so recht zu einander. Der Plot verbindet sie nicht schlüssig.
Trotz diesem Einwand ist der Film unbedingt zu empfehlen. Was ihm zum überzeugend durchgearbeiteten Drama fehlt, das macht er wett mit eindrucksvoller Bildsprache (Kamera: Judith Kaufmann), vielen stimmigen und berührenden Episoden und grossartigen Darstellern. Vor allem die Figur der Mia, gespielt von Luna Mijovic, wird man nicht so bald vergessen.