Die israelische Armee stellt die Strafuntersuchung im Fall der im Westjordanland erschossenen Palästinenserin Shireen Abu Akleh ein. Die Fernsehjournalistin sei, folgert die IDF, in einer «aktiven Kampfsituation» getötet worden. Doch die Zweifel an der Version des Militärs bleiben, genährt von Videos aus den sozialen Medien.
Fakt bleibt, dass die 51-Jährige am frühen Morgen des 11. Mai in der Stadt Jenin in der von Israel besetzten Westbank von einer Kugel am Hals getroffen worden ist. Doch woher kam der tödliche Schuss? Abu Aklehs Arbeitgeber Al Jazeera und der Palästinenserbehörde zufolge wurde sie mit grosser Wahrscheinlichkeit von einem israelischen Scharfschützen getötet. Dagegen argumentieren die IDF, die Journalistin könne ebenso gut in unkontrolliertem Kreuzfeuer palästinensischer Militanten umgekommen sein, wobei die Israelis nicht ausschliessen, dass allenfalls ein Scharfschütze der Armee Shireen Abu Akleh aus einer Entfernung von 200 Metern traf.
Eine forensische Untersuchung könnte Klarheit bringen, woher die tödliche Kugel stammte. Doch die palästinensische Seite weigert sich, mit der israelischen Armee zu kooperieren und die fragliche Kugel zu übergeben, da sie die Unabhängigkeit der Gegenseite anzweifelt. Sie plädiert für eine internationale Untersuchung. Die «Israel Defense Forces» (IDF) ihrerseits haben das Gewehr lokalisiert, aus dem der tödliche Schuss unter Umständen abgegeben wurde.
Doch der ganze Disput ist jetzt hinfällig, da Israels Armee beschlossen hat, keine Strafuntersuchung des Vorfalls einzuleiten. Eine «operationelle Untersuchung» geht weiter. Wobei der Umstand, dass israelische Polizisten am 13. Mai bei der Beerdigung von Shireen Abu Akleh in der Altstadt von Jerusalem Teilnehmende des Trauerzugs und selbst die Sargträger mit Schlagstöcken attackierten, wenig zur Entspannung der Lage beitrug.
Bellingcat und CNN untersuchen
Für die palästinensische Staatsanwaltschaft steht nach ersten Untersuchungen fest, dass Shireen Abu Akleh in Jenin von Israelis gezielt getötet worden ist. Auch die in den Niederlanden ansässige investigative Organisation Bellingcat, die sich auf Faktenprüfung und Open-Source Informationen spezialisiert, kommt nach einer ersten Überprüfung von Videos, die in den sozialen Medien zirkulieren, zum Schluss, dass die Al-Jazeera-Korrespondentin gezielt getötet worden ist. Auch der Fernsehsender CNN folgert nach einer akribischen Untersuchung mit Hilfe von Videos und Augenzeugenberichten sowie Aussagen eines forensischen Audioexperten und eines Waffenspezialisten, dass Abu Akleh das Opfer einer gezielten Attacke geworden ist.
Derweil wirft die linke israelische NGO «Yesh Din» den IDF vor, sie würden sich mit der Einstellung des Strafverfahrens ihrer Verantwortung entziehen. Offenbar, so die NGO, seien der Armee ihr Image und das politische Umfeld wichtiger als die Wahrheitsfindung und die Suche nach Gerechtigkeit. «Yesh Din» zufolge hat die israelische Armee in 80 Prozent der Fälle, in denen sie unter Beobachtung der Organisation mögliches Fehlverhalten ihrer Soldaten untersuchte, die Verfahren eingestellt.
«Anti-jüdischer Rassismus»
Gleichzeitig hat Israels Sondergesandte zur Bekämpfung des Anti-Semitismus in den USA, die 47-jähtige Schauspielerin Noa Tishby, suggeriert, die Reaktionen dreier prominenter amerikanischer Muslimas im Fall Abu Akleh basierten auf «anti-jüdischem Rassismus». Sie meinte damit die beiden demokratischen Kongressabgeordneten Rashida Tlaib und Ilhan Omar sowie das Model Bella Hadid.
Noa Tishby zufolge ist Shireen Abu Akleh lediglich eine von über 2600 Medienschaffenden, die seit 1990 in Kriegsgebieten umgekommen sind. Ausserdem sei die Palästinenserin die einzige von zwölf Mitarbeitenden von Al Jazeera gewesen, die in den Gebieten getötet wurde, die von Israel besetzt sind. Einziger Grund für die Empörung über den Tod Abu Aklehs, so Tishby, sei die Adaption einer Doppelmoral, «die allein in mitunter unbewusstem Anti-Semitismus, anti-jüdischem Rassismus gründet».
Opportuner Status-quo
Israels Sondergesandte erwähnte allerdings nicht, dass seit den frühen 1990er-Jahren mehr als 50 Medienschaffende in den besetzten Gebieten gewaltsam ums Leben gekommen sind. «Trotz dieser schockierenden Zahl ist nicht eine einzige Untersuchung der Aktionen der israelischen Armee zum Schluss gekommen, dass ein Fehlverhalten vorlag, und mit Sicherheit ist niemand zur Rechenschaft gezogen worden», schrieb 2015 der Marokkaner Younes M. Jahed, Präsident der «International Federation of Journalists» (IFJ), in seinem Jahresbericht.
Ravit Hecht, eine Journalistin der israelischen Tageszeitung «Haaretz», kommt indes in einer Kolumne zum Schluss, dass derzeit niemand eine ehrliche und gesicherte Antwort geben könne, wer am 11. Mai Shireen Abu Akleh erschossen habe: «Nach kurzer Zeit finden wir eher heraus: dass keine der beteiligten Parteien im Mindesten daran interessiert ist, die Wahrheit zu finden.» Die Palästinenser nicht, weil ein für sie ungünstiger Ausgang der Untersuchung ihr Narrativ eines Kampfes von David gegen Goliath schwächen würde und weil der jetzige Stand der Dinge Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas gegenüber der islamischen Widerstandsorganisation Hamas stärke.
Win-win auch für Israel
Gleichzeitig sind laut Ravit Hecht aber auch die Israelis allen öffentlichen Bekundungen und Forderungen zum Trotz nicht daran interessiert, die Herkunft der tödlichen Kugel zu bestimmen, weil es ja durchaus sein könnte, dass sie aus einem Gewehr der IDF stammt. Zwar könne man einerseits behaupten, man sei bereit gewesen, Shireen Abu Aklehs Tod zu untersuchen, was aber angesichts der palästinensischen Weigerung, die Kugel herauszurücken, leider nicht möglich sei. Anderseits aber könne der Fall nicht eintreten, dass Beweise eindeutig zeigten, Israel sei für den Tod der palästinensischen Journalistin verantwortlich. Die «Haaretz»-Journalistin zitiert dazu einen höheren Offiziellen: «Was wird geschehen, falls sich herausstellt, dass wir sie (Shireen Abu Akleh) tatsächlich getötet haben?»