In Israel sind bei den Knesset-Wahlen so ziemlich alle Prognosen widerlegt worden – nicht zum ersten Mal bei Urnengängen unter einigermassen demokratischen Bedingungen. Die Umfragen der Prognostiker hatten entweder ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem amtierenden Regierungschef Netanyahu und seinem wichtigsten Konkurrenten Herzog vorausgesagt – zuletzt sogar deutlich mehr Sitze für das von Herzog geführte „zionistische Lager“. Nun hat Netanyahus Likud-Partei 30 Sitze bekommen, Herzogs Formation muss sich mit 24 begnügen.
Der Teufel den man kennt
Man hat den Verdacht, dass bei diesem Wahlausgang ähnliche Mechanismen gespielt haben wie etwa bei der überraschenden Annahme der Minarett-Initiative in der Schweiz im Jahre 2009. Auch damals hatte man allgemein mit einer Ablehnung dieses dubiosen Anliegens gerechnet, das den Bau neuer Minarette in unserem Land verbietet. Dann aber stellte sich heraus, dass die Appelle an die Abwehrreflexe und die Angstmacherkampagne der Befürworter bei vielen Bürgern durchaus auf Gehör gestossen waren. Nicht wenige unter ihnen stimmten anders, als sie bei Umfragen angegeben hatten.
Ebenso scheint ein grösseres Segment unter jenen israelischen Wählern, die für Netanyahus manipulative Persönlichkeit wenig Begeisterung aufbringen und für die seine Unpopularität selbst unter Israels Verbündeten kein Geheimnis ist, am Ende doch für „den Teufel, den man kennt“ votiert zu haben. Sein Herausforderer Yitzhak Herzog mochte zwar als Person sympathischer wirken, aber er galt weitherum als politisch unbeschriebenes Blatt und in Sicherheitsfragen weniger kompromisslos als der mit allen Wassern gewaschene Regierungschef.
Brodelnde Nachbarschaft
Dass solche Abwägungen schliesslich deutlich zugunsten des Hardliners Netanyahu ausschlugen, hat viel mit den desolaten, instabilen und wenig Vertrauen erweckenden Entwicklungen in Israels unmittelbarer Nachbarschaft zu tun. Die Palästinenser sind trotz gelegentlicher Einigkeitsrhetorik heillos untereinander zerstritten. Die im Gazastreifen herrschende Hamas weigert sich weiterhin, ein Existenzrecht Israels anzuerkennen und einige ihrer extremistischen Gruppierungen sind offenbar nicht abgeneigt, mit zynischen Raketenattacken neue Verwüstungsfeldzüge Israels zu provozieren.
In Syrien herrscht blutige Anarchie, niemand weiss, wie es in diesem Nachbarland weitergehen wird. Auch Jordanien mit seinen unzähligen Flüchtlingen aus Syrien und Irak ist kein solider Fels in der Brandung. Ägypten entwickelt sich nach einem gescheiterten Demokratie-Experiment wieder in Richtung Militärdiktatur und Irans machtpolitische Ziele sind gerade für Israel alles andere als beruhigend. Hinzu kommen die Umtriebe blutrünstiger islamistischer Fanatiker wie IS in mehreren arabischen Ländern.
Länger als Ben Gurion im Amt?
Alle diese Unsicherheitsfaktoren, die Netanyahu mit seiner simplistischen und selbstgerechten Rhetorik zum Hauptthema seiner Wahlkampfes machte, haben offenkundig mehr israelische Wähler beeindruckt, als die stärker auf soziale Probleme konzentrierten Botschaften Herzogs. Dieser setzte zwar aussenpolitisch etwas flexiblere Akzente, hütete sich jedoch, ein klares Programm zur Schaffung eines palästinensischen Staates zu formulieren.
Netanyahu wird nun also seine vierte Amtszeit als Regierungschef antreten können. Er hat damit Gelegenheit, zu dem am längsten regierenden Premierminister in der Geschichte Israels zu avancieren – länger als der Gründer-Patriarch David Ben Gurion. Doch ob er wie dieser je als bedeutende Figur in die Geschichte eingehen wird, ist höchst zweifelhaft. Er hat bisher nichts unternommen, das ihm einen bemerkenswerten historischen Platz sichern würde.
Keine Figur für die Geschichtsbücher
Das könnte ihm nur gelingen, wenn er den Willen hätte, eine Perspektive zur Lösung der Palästinenserfrage – langfristig Israels existenziellstes Problem – zu öffnen. Daran aber hat er offenkundig kein Interesse. Er will stattdessen die jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten weiter ausbauen. Am Ende des Wahlkampfes erklärte er erstmals in aller Offenheit, einen palästinensischen Staat werde es unter seiner Regierung nie geben.
Mit Sicherheit wird er auch nicht bereit sein, den Palästinensern im Westjordanland die Möglichkeit zu bieten, israelische Bürger zu werden, um so einen binationalen Staat zu schaffen. Doch unbegrenzt wird Israel im 21.Jahrhundert nicht damit rechnen können, als Staat moralisch toleriert zu werden, der über mehrere Millionen Menschen ohne Staatsbürgerschaft herrscht. (Im Gazastreifen und in Cisjordanien leben rund 4.5 Millionen Araber.)
"A bad deal"
Der eher zum britischen Understatement neigende „Economist“ meinte in seiner letzten Ausgabe vor den Knesset-Wahlen, Netanyahu sei für Israel alles in allem „a bad deal“ gewesen. Das Blatt gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass der Neuling Herzog ihn ablösen werde und so die Chance bekomme, wieder mit den Palästinensern zu verhandeln und das von Netanyahu mutwillig beschädigte Verhältnis mit dem amerikanischen Präsidenten zu reparieren. Dazu wird es nun vorläufig nicht kommen. In der Nahostregion und insbesondere auf dem Spezialfeld des israelisch-palästinensischen Konflikts ist kein neuer Hoffnungsstrahl aufgetaucht.
Es stimmt, die Israeli können mit diesem Status quo bis auf weiteres besser leben, als die eingepferchten Palästinenser in den besetzten Gebieten. Aber unbefristet wird sich auch die unruhige israelische Gesellschaft mit dieser gefährlichen ungelösten Frage nicht abfinden wollen. Lösen können sie nur Politiker mit weiterem Blick und grösserem Format als Netanyahu – oder die jetzige Führung der Palästinenser.