Am 18. Februar fuhr Himanshu Thakur in weiten Kurven über den Riesenslalom-Kurs von Sochi. Seine Fahrzeit bis ins Ziel: Drei Minuten 37 Sekunden, eine persönliche Bestzeit. Aber sie genügte nicht für eine Medaille. Die Siegeszeit von Ted Ligety lag mit 2:45 fast eine Minute darunter. Thakur wurde Fünfundsiebzigster. Gestartet waren 75 Athleten.
Zwei verschiedene Flaggen
Indiens fünf Athleten haben keine Medaillen nach Hause gebracht. Es rief keine negativen Schlagzeilen auf den Plan, denn die Spiele waren nicht einmal eine regelmässige Berichterstattung wert. Wir mussten auf die Schlusszeremonie warten, bis Indien schlagzeilenverdächtig wurde. Denn zum ersten Mal in der Geschichte der Olympischen Spiele zog eine Nation unter einer anderen Flagge aus dem Stadion als sie einmarschiert war. Bei der Eröffnung hatte das Häuflein der fünf Aufrechten noch unter der weissen Olympia-Flagge gewinkt; beim Abschied am Sonntagabend war es wieder die indische Trikolore.
Fast hätte es für das Land weder Ein- noch Ausmarsch gegeben. Denn vor gut einem Jahr hatte das IOC die nationale Indian Olympic Association (IOA) von der Mitgliedschaft suspendiert. Sie hatte sich nämlich hartnäckig geweigert, ihre Statuten so anzupassen, dass Personen unter Korruptionsverdacht nicht mehr für Exekutivposten kandidieren könnten.
Von Korruption verseuchter Sport
Wie verseucht die ganze Sportpolitik des Landes ist, zeigte die Dreistigkeit, mit der die IOA-Mitglieder dennoch darangingen, ihren Präsidenten und Generalsekretär zu wählen. Die einzigen Kandidaten waren ein Regionalpolitiker, gegen den Klagen wegen Amtsmissbrauch hängig sind, sowie der ehemalige Generalsekretär der Commonwealth–Spiele von Delhi 2010. Dieser ist gegen Kaution wieder auf freiem Fuss, nachdem er wegen ungetreuer Geschäftsführung 2011 verhaftet worden war.
Unter Druck des Sportministeriums war die Wahl der beiden damals unterblieben, aber die IOA weigerte sich weiterhin, die Statuten zu ändern. Selbst die Drohung des IOC, die Suspendierung in einen definitiven Ausschluss umzuwandeln, verpuffte zunächst. Wen würde es schon stören, wenn keine indischen Athleten nach Sochi reisten? Erst als der Ausschluss aus den nächsten Sommerspielen in Brasilien drohte, bequemte sich die IOA zu einem neuen Verbandsgesetz und wählte einen unbescholtenen Funktionär zum Präsidenten. Darauf hob das IOC während der Sochi-Spiele die Suspension auf, und die Inder konnten am Sonntag zum Abschied wieder ihre Flagge hissen.
Bescheidene sportliche Erfolge
Nicht dass die Sommer-Olympiade in zwei Jahren die Herzen der Inder schon höher schlagen liesse. In den 114 Jahren Olympia-Beteiligung gewann es 26 Medaillen. Sieben der acht Goldenen waren in einer einzigen Sportart – Landhockey – errungen worden. Der Schütze Abhinav Bindra wurde 2008 in Beijing der erste indische Goldmedaillist in einem Einzelwettbewerb.
London 2012 brachte Indien seine bisher beste Ausbeute: zwei Silber, vier Bronze. Das ist herzlich wenig im Vergleich mit den 47 Medaillen des Zwergs Trinidad&Tobago, aber sie wurden immerhin in Individualdisziplinen gewonnen. Und als die kleine Schwergewichtsboxerin Mary Kom aus dem abgelegenen Manipur sich Runde um Runde nach vorne kämpfte, brach in Indien sogar eine Athletik-Variante des regelmässigen Cricket-Fiebers aus. Kom musste sich mit Bronze zufrieden geben, und in Indien fiel fast in eine Nationaltrauer.
Gentlemen-Sport
Cricket-Fieber ist das Stichwort. Indien sei eben eine Ein-Sport-Nation, lautete nach den verflogenen Goldmedaillen-Hoffnungen von London ein Kommentar. Cricket ist tatsächlich der einzige wirkliche Nationalsport, dessen Magie quer durch alle Klassen, Kasten und Regionen geht. Es ist Zuschauersport und Zeitvertreib, im weissen Flanell oder in Slum-Gassen. Diese Vernarrtheit in den snobistisch angehauchten Gentlemen-Sport verdrängt, etwa beim Sport-Sponsorting, alle anderen Sportarten.
Die Cricket-Obsession ist für einige Beobachter auch der Beweis, dass Indern der Killer-Instinkt fehlt, den es braucht, um aus 1300 Millionen Menschen ein paar tausend Spitzenathleten zu destillieren. Denn Cricket ist nicht ein Sport, in dem kompromisslos auf den Gegner losgegangen wird, schweisstriefend und mit Ellbogen-Einsatz. Das mehrtägige Test Cricket ist ein Spiel, das Ausdauer, Kalkül und einen kühlen Kopf verlangt. Momente von Schnelligkeit und Präzision wechseln ab mit Phasen des Herumstehens oder gar des Zuschauens von der Tribüne. Und ein guter Team-Captain ist einer, der das Wetter richtig einschätzt, die Luftfeuchtigkeit und den Wind, die relative Bodenfestigkeit zu verschiedenen Tageszeiten.
Präzision wichtiger als Kraft
Cricket verlangt also einen Spielertyp, der Körperkontakt weitgehend vermeidet, Präzision höher wertet als Kraft. Auch Cricket-Profis erleiden Verletzungen, etwa wenn sie vom Ball getroffen werden oder beim Hechtsprung in dessen Flugbahn auf den Boden krachen. Aber das typische Weiss des Cricket-Kostüms zeigt hinlänglich, dass es ein Sport ist, bei dem der ideale Spieler mit einer reinen Weste vom Feld geht.
Man ist versucht, Klischees von Nationalcharakter zu bemühen, wenn man sieht, dass dieses Spiel selbst unter den ärmsten Menschen Feuer fängt. Andernorts mag Elend und die Aussichtslosigkeit ökonomischer Chancen die Triebfeder sein, um sich zumindest mit der eigenen Körperkraft aus der Armut zu kämpfen. Auch indische Slumkids sind es offenbar zufrieden, sich im Rund einer Abfallhalde aufzustellen und geduldig die Wurftechnik ihres Werfers zu bewundern, statt sich im Streit Ringkampfqualitäten anzueignen.
Das Gegenbeispiel Manipur
Wie immer in Indien gibt es aber auch Gegenbeispiele, den Kleinstaat Manipur an der Grenze zu Myanmar etwa. Die Ballung harter Ausgangsbedingungen – Beschäftigungslosigkeit, Untergrundbewegungen, die höchste AIDS-Konzentration Indiens, fünfzig Jahre militärischer Ausnahmezustand mit entsprechenden Menschenrechtsverletzungen – hat auch dafür gesorgt, dass Manipur am meisten Spitzensportler hervorbringt. Fünfzig nationale Boxmeister gehören dazu, mit Mary Kom als fünffacher Weltmeisterin ihrer Klasse an der Spitze.
Vielleicht liegt der kleine Stammesstaat auch einfach zu weit weg, dass Politiker und Beamte angezogen werden. Der Skandal um den Nationalen Olympia-Verband hat gezeigt, dass diese Spezies die Einzelsport-Verbände unter Kontrolle gebracht hat. Sie erlauben es ihnen, staatliche und private Unterstützungsgelder abzuzweigen und Sportanlässe für Stimmenfang zu nutzen. Gratisreisen zu internationalen Anlässen kommen hinzu, und bei Olympischen Spielen ist es für sie patriotische Pflicht, das dünne Sportlerkontingent aufzufüllen, sodass die indische Delegation beim Einzug der Gladiatoren bella figura macht.
Verbreitetes Doping
Das Stichwort Doping zeigt aber, was Korruption konkret bedeutet. Indien hält weltweit die Goldmedaille in der Suspendierung von Athleten aufgrund positiver Drogentests. Steroide sind dank laxer Gesetzgebung leicht erhältlich, Sportler – viele aus ihnen aus armen Verhältnissen stammend – sind schlecht informiert, ernähren sich falsch und kompensieren dies mit Chemie. Gemäss einem kürzlichen Bericht der New York Times finden namentlich osteuropäische Trainer, die in ihren Heimatstaaten unter Verdacht des Dopingmissbrauchs stehen, in Indien ein Einkommen.
Die Suspendierung Indiens durch das Olympische Komitee war also mehr als ein Schlag gegen korrupte Spitzenfunktionäre. Sie soll endlich auch eine gesunde Infrastruktur aufbauen helfen. Sodass es nicht bürgerkriegsähnlicher Zustände wie in Manipur bedarf, bis sich ein Land aufrafft und auf die natürlichen sportlichen Fähigkeiten jedes Menschen besinnt.