Indien erlebt wieder einmal einen dieser Naipaul-Augenblicke. Ich meine den Buchtitel des Nobelpreisträgers: India – A Million Mutinies Now. Überall im Land brennt es. Delhis Nehru-Universität ist von der Polizei umringt, in Kaschmir liefern sich Armee und Jihadis Feuergefechte, in Andhra Pradesh – so heisst der neue Teilstaat im Süden – erhält die Polizei Schussbefehl, um die marodierende Kapu-Kaste unter Kontrolle zu behalten.
Im Norden von Westbengalen blockieren Cooch Beharis alle Eisenbahnlinien – sie wollen einen eigenen Gliedstaat – und südlich von Kolkata sind Muslime und Hindus aneinandergeraten. Oder sind es rivalisierende Opium-Gangs? Oder vielleicht Schlepperbanden im lukrativen Markt für Migranten aus Bangladesch? Oder alles zusammen? In allen diesen Brennpunkten gibt es Tote und zahlreiche Verletzte.
Im Innern der Zeitungen begraben
Doch dies sind, mit Ausnahme der JNU, Nachrichten, die im Innern der Zeitungen begraben sind. Die Schlagzeilen werden beherrscht vom jüngsten Kastenkrieg in Haryana, dem Agrarstaat, der Delhi von drei Seiten eingrenzt. Er hat vom Boom der Hauptstadt profitiert – Gurgaon ist ein Beispiel - ist zum reichsten Bundesstaat (pro Kopf der Bevölkerung) aufgestiegen. Als Dank blockierten letzte Woche Tausende junger Männer die grossen Einfallstrassen, erbeuteten die Schleusentore und stellten den Delhiwallahs das Trinkwasser ab.
Sie erbarmten sich auch der eigenen Bürger nicht. In den grossen ‚Kleinstädten’ – jede mit über einer halben Million Einwohnern – kühlten die Rowdies ihre Wut an Geschäften, Autos, Polizeiwachen, sogar Schulhäusern ab. Letzteres entbehrte nicht einer gewissen Ironie. Denn was die Jats – so heisst ihre Bauernkaste – wollten, waren Quoten für Studienplätze, die ihnen dann Zugang zu Staatsstellen, auch diese ‚reserviert’, garantieren würden.
Knappe Studienplätze
Reservations nennt man solche Quoten in Indien. Die Gesetzgebung basiert auf dem Verfassungsauftrag, die Kastendiskriminierung mit dieser affirmative action aufzuheben. Für die kastenlosen Dalits und die Ureinwohner sollten 23 Prozent der Studienplätze und Regierungsjobs ‚reserviert’ werden. 1989 kamen ähnliche Quoten für die tiefen Handwerkerkasten (‚Other Backward Castes’ oder OBC) hinzu. Da das Oberste Gericht einen Plafond von nicht mehr als fünfzig Prozent für Quotenplätze verfügt hatte, erhielten die OBCs 27 Prozent zugesprochen.
Nach dem Einschluss der OBCs war es damals zu Ausschreitungen der höheren Kasten gekommen. Sie protestierten gegen den schrumpfenden Zugang für jene Studenten und Job-Anwärter, die aufgrund eigener Leistungen weiterkommen wollten. Man mochte noch so viel Merit haben, es wurde immer schwieriger, sich für die knappen Studienplätze zu qualifizieren. In den Indian Institutes of Technology kann dies so weit gehen, dass man selbst mit einer Examensquote von 98 Prozent leer ausgeht.
Kein Jobwunder
Doch die politische Arithmetik erlaubte keine Änderung. OBCs und Dalits sind wichtige Wahlblöcke, und die Gerichte wachen über die sozialethischen Vorgaben der Verfassung. Mit der Zeit ebbten die Proteste ab, weil die höheren Kasten glaubten, dass die Liberalisierung der Wirtschaft genügend neue Jobs schaffen würde. Der Staatssektor war ohnehin am Schrumpfen.
Doch es kam anders. Staatsstellen wurden in der Tat rarer, doch das erwartete Jobwunder namens Privatwirtschaft blieb aus. Indien mutiert rasch zu einer kapitalintensiven Industrie. Die städtischen Mittelklassen und hohen Kasten können sich anpassen, nicht zuletzt dank dem Boom privater Schulen und Colleges, wo nur Merit zählt.
Quoten-Inder
Zurück bleiben die traditionell dominanten mittleren Bauernkasten. Mit dem dramatischen Rückgang der landwirtschaftlichen Produktivität können sie ihre soziale und politische Dominanz nicht mehr ausspielen. Haryana ist ein typisches Beispiel. Mit einem Bevölkerungsanteil von knapp dreissig Prozent haben die Jats sieben der bisherigen zehn Provinz-Regierungschefs gestellt. Doch deren Versuche, den Kulaken mit Quoten bessere Aus- und Aufstiegsmöglichkeiten zu geben, wurden von Delhi – Staat und Gerichten – regelmässig abgeschmettert.
Unfähig, die Quotenbarriere zu beseitigen, verfielen die Bauernkasten auf die Idee, sich in die OBC-Kategorie einzuschmuggeln. Wenn der meritokratische Zugang immer enger wurde, dann wollten sie ebenfalls zu den Quoten-Indern gehören, Kastenabstieg hin oder her. Doch die OBCs (immerhin 3600 Kasten) zeigen wenig Interesse, ihren kümmerlichen Kuchen mit Nachzüglern zu teilen; umso mehr als das Job-Angebot des Staats ohnehin nicht mit dem demografischen Wachstum Schritt hält.
Aufgestaute Frustration
In Rajasthan etwa wehrte sich die OBC-Kaste der Gujjars gegen das ‚Herunterstufen’ ihrer Jat-Rivalen. Als ihre Proteste nicht verfingen, wollten auch sie sich weiter zurückstufen lassen – zu Dalits, wo das Gedränge von Anwärtern weniger gross schien. Aber auch dort war die Lust gering, ihre Quote mit Neuzuzügern zu teilen. Die Politiker wussten nicht mehr ein noch aus. Wenn sie die eine wahlstarke Kaste mit Versprechen besänftigten, verloren sie garantiert die Stimmen einer anderen.
Die exzessive Gewaltanwendung in den jüngsten Protesten in Haryana – sechzehn Toten, Hunderte von Verletzten, Millionenschäden – ist ein Indiz für den Grad an aufgestauter Frustration. Es ist der bekannte Reflex einer jungen Gesellschaft voller Aspirationen, die mit Versprechen der Politiker (und der Glastürme von Gurgaon) geweckt werden; und die in Gewalt umschlagen, wenn sie wieder und wieder enttäuscht werden.
Schock für Modi
In diesem explosiven Mix sind auch die Politiker nicht mehr fähig, die zugrundeliegenden Energien auf ihre Mühlen zu lenken. Selbst der sieggewohnte Narendra Modi muss über die Bücher. Er hatte gemeint, dass er mit einem Mix von zukunftsgerichteter Aspiration und rückwärts blickender Hindu-Identität genau den richtigen Polit-Cocktail gefunden hatte. Alle grossen Bauernkasten – die Jats, Patidars, Mahratten, Kapus – stimmten 2014 massiv für die BJP
Der erste Schock kam, ausgerechnet, aus Modis Heimatstaat Gujerat. Auch die Patidars hatten dort BJP gewählt, auch sie hatten sich am Anblick der Muslime ergötzt, als ihr geliebter Bhai – Bruder – sie so gekonnt in den Senkel stellte. Und hatte er nicht mit seinen Jahrmärkten für Auslandsinvestoren riesige Gelder in den Staat gelockt? Tausende von Jobs winkten, die ihnen den Übergang von der Landwirtschaft in eine kleinstädtische Mittelklasse erlauben würden.
Monatelange Ausschreitungen
Das mit den Muslimen mochte stimmen - aber Jobs? Sie bleiben aus. Die grossen Autohersteller – Tatas, Ford, Maruti-Suzuki – heimsten steuergünstig Fabrikland ein, doch sie stellten dort lieber automatisierte Produktionsstrassen auf als arbeitsintensive mechanische Werkstätten. Ein Jahr, nachdem er seinen Chefposten in Gandhinagar mit jenem in Delhi vertauscht hatte, kam bereits die erste Quittung ins Haus.
Ein junger Mann namens Hardik Patel gab das Signal zum Aufstand. In ganz Gujerat kam es zu monatelangen Ausschreitungen, bis der Staat endlich durchgriff, Patel wegen Aufwiegelung ins Kittchen steckte, und gegen 1700 seiner Getreuen Haftbefehle erliess. Die Wahlquittung blieb dennoch nicht aus: Bei den Gemeindewahlen im Herbst 2015 verlor Modis Partei die Kontrolle über alle ländlichen Gemeinden; nur in den Städten konnte sie sich halten.
Sollte Modi verlieren...
In Haryana hat die Regierung zwar auch Verhaftungen vorgenommen. Doch am Ende kapitulierte sie und versprach die Aufnahme der Jats in die OBC-Kategorie. Auch dieses wird von den Gerichten zweifellos zurückgewiesen werden – die Regierung spielt einfach auf Zeitgewinn. Aber die Signalwirkung wird nicht ausbleiben.
In Gujerat stehen nächstes Jahr Provinzwahlen bevor. Schon jetzt rüsten sich Hardik Patels Anhänger zum Kampf. Sollte Modi in seiner Hochburg verlieren, wäre dies ein schlechtes Omen für den Mann, der sich 2014 anschickte, Indien in zehn Jahren in ein zweites China zu verwandeln. Modi wird nicht müde, die stolze Hindu-Vergangenheit herbeizureden. Sie hat, in ihrem Avatar als Kaste, ihre eigene Art, sich wieder zu Wort zu melden.