„If there be Paradise, it is here, it is here, it is here.“
Es gehört zu den Ironien der Arbeit eines Korrespondenten, dass er oft in Konfliktgebieten arbeiten muss, deren ausserordentliche Schönheit nur durch die ähnlich starke Emotionalität roher Gewalt aufgewogen wird. Sri Lanka ist ein solches Land, auch Afghanistan.
Doch für keine Region ist dies so wahr wie für Kaschmir, auf das sich das Eingangszitat des klassischen persischen Dichters Amir Khusru bezieht Die Flusslandschaft von Srinagar sowie die weitläufigen Seitentäler verbinden die Klarheit und Wucht einer hochalpinen Landschaft mit den weichen Konturen eines Reisanbaugebiets, die schäumenden Bergbäche münden in stille Seen und Moorgebiete mit einer fast tropischen Vegetation.
Politische Verkrampftheit
Selbst wenn ich als Berichterstatter unterwegs war, nistete sich diese bukolische Landschaft in die Spannung des Bürgerkriegsalltags ein. Ich war einmal mit dem Kollegen E. H. zum Interview mit einem Vertreter der „Jammu&Kashmir Liberation Force“ unterwegs. Wir gingen einem Bewässerungskanal entlang, dessen Wasser lautlos neben uns floss. Es schien uns zu begleiten und ich dachte an einen Paradiesgarten. Plötzlich rutschte mein Kollege aus und drohte zu fallen – und fast gleichzeitig kam aus dem nahen Gebüsch das mechanische Knacken eines Gewehrverschlusses, das auf „schussbereit“ schaltete.
Doch es waren nicht diese emotionalen Loopings, die mir Arbeitsbesuche in Kaschmir je länger je mehr verleideten. Es war die schiere Ausweglosigkeit und politische Verkrampftheit des Konflikts, in den sich die Kontrahenten verbissen. Zynisch wie Journalisten eben sind, fragten wir spasseshalber, welchen unserer früheren Berichte wir diesmal aus dem Archiv nehmen würden, um ihn mit angepasstem Datum an die Redaktion zu schicken.
Faust im Samthandschuh
Nur die Zahl der militärischen und paramilitärischen Verbände veränderte sich Jahr um Jahr nach oben, treu begleitet von der Kurve erschossener Mudschaheddin, Soldaten und Zivilisten. Die einzig relevante Frage lautete jeweils, ob Kaschmir diesmal auf einen Anschluss zu Pakistan zu kippen schien, oder auf „Azadi“, den vielbeschworenen Mythos staatlicher Unabhängigkeit.
Allein die militärische Massierung von knapp einer halben Million Mann hat eine derart demoralisierende Wirkung, dass die periodisch lancierten PR-Kampagnen der Armee – To win Hearts and Minds – als das durchschaut wurden, was sie waren: die Faust im Samthandschuh.
Den Konflikt am Leben erhalten
Auch die politischen Initiativen begannen sich immer mehr zu gleichen. Als die BJP anfangs Jahrhundert in Delhi ans Ruder kam, zeigte sich, dass auch die Hindu-Nationalisten keinen neuen Ausweg gefunden hatten. „Insaniyaat, Kashmiriyat, Jamhooriyat“ nannte der damalige Premierminister Vajpayee die Leitsätze einer Lösung: Respekt der Menschenrechte, Anerkennung einer subnationalen Identität, Demokratie.
Obwohl Vajpayees Nachfolger Manmohan Singh diesen Ansatz ernsthaft weiterverfolgte, zerbrachen diese schönen Worte an zwei hartnäckigen Konstanten: Am schwerfällig-bürokratischen indischen Staat, gegen dessen alltägliche Brutalität sich kein wohlmeinender Politiker durchsetzen kann. Dann (und vor allem) am vitalen Interesse Pakistans, den Kaschmirkonflikt am Leben zu erhalten. Dessen anhaltende Virulenz garantiert der Armee- und Politikerkaste in Islamabad die Legitimität ihrer Macht.
Öffentliche Stimmung zur Weissglut bringen
Heute verfügen alle drei Seiten über eine neue Waffe, mit der sie ihre Ziele verfolgen – oder, im Fall der muslimischen Bevölkerungsmehrheit Kaschmirs, ihre Verzweiflung artikulieren. Es sind die Sozialen Medien. Videos können islamistisch-terroristisches Gedankengut grenzüberschreitend transportieren; sie können Flash Mobs erzeugen und den Diskurs von Leiden und Gewalt in tausend Geschichten erzählen; und sie können die öffentliche Stimmung in Indien zur Weissglut bringen und damit die Zwangsschraube weiter anziehen.
Keiner vermochte diese neuen Kommunikationskanäle besser zu nutzen als Burhan Wani, ein junger, technophiler Kommandant der Hizbul Mudschaheddin. Statt die Armee militärisch herauszufordern, machte er sie in Videos lächerlich, spielte mit ihr Katz-und-Maus, verbreitete seine Befreiungstheologie, bis er ein Volksheld war und die mächtige Armee entmannt dastand.
Operation Calm Down
Seine Ausschaltung wurde zu einer militärischen Priorität für Delhi. Als er vor einem Jahr schliesslich aufgebracht und erschossen wurde, mündete sein Begräbnis in eine verzweifelte Mischung von Volksaufstand und Landestrauer, so sehr hatte sich schier die ganze Bevölkerung mit ihm identifiziert. Würde dieser jüngste Endpunkt im Kampf gegen einen übermächtigen Gegner auch die Chance eines Wendepunkts in Indiens Politik bringen?
Doch statt einem Neubeginn begann sich der Kreis erneut rasch zu drehen. Die Landesregierung, gefangen in einem Zweckbündnis zwischen der zentralistischen BJP und der autonomistischen PDP, zwischen Hindu-Nationalisten und dem Srinagar-Establishment, machte ein paar leere rhetorische Gesten. Die Armee begann eine ihrer Hearts&Minds-Kampagnen, die sich sogleich durch ihren denkbar dummen Namen verriet: Operation Calm Down.
Wahlbeteiligung: 7 Prozent
Gefangen in diesem ewigen Kreislauf, verging der Winter – die Zeit, in dem Infiltration aus Pakistan zurückgeht, in dem die Kälte die Menschen in ihre Häuser zwingt – ohne neue politische Initiativen. Eine Nachwahl in einem Vorort von Srinagar diesen Frühling würde zeigen, ob die Menschen müde waren von diesem ewigen Auf und Ab von Gewalt. Wahlen waren bisher das Einzige gewesen, das Delhi und Srinagar verband. Selbst im bittersten politischen Frost waren die Kaschmirer jeweils in grosser Zahl an die Urnen geströmt.
Das Gegenteil traf ein. Die Menschen versammelten sich zwar vor den Wahllokalen, doch nicht um zu stimmen, sondern den ganzen Wahlprozess zu verhöhnen. Sie taten es gegenüber den wenigen Wählern (Wahlbeteiligung: 7%), sie brannten Wahllokale nieder, zerstörten Urnen. Und sie liessen Steine auf Polizei und Wahlbeamte niederprasseln. Vor einem Wahllokal kippte die Stimmung um und Polizisten meldeten über Funk, sie befürchteten ein Lynching.
„Go India, Go Back“
Als der Kommandant einer Einsatztruppe dies hörte, setzte er seine Leute in Bewegung, um die gefährdeten Beamten herauszuholen. Kurzentschlossen nahm Major Gogoi einen Zivilisten – einen jungen Schneider namens Farooq Dar – fest und liess ihn auf den ersten Jeep fesseln, als Schutz vor Steinwürfen. Die Rettungsaktion gelang, die Beamten wurden herausgeholt. Doch der politische Effekt war ein Desaster. Der auf die Fahrzeughaube gefesselte Mann wurde natürlich gefilmt. Das Video-Clip ging um die Welt – und wirkte im Talkessel von Srinagar wie Zunder.
Kaum begonnen, schaukelte der neue Social Media War das gegenseitige tit-for-tat weiter hoch. Ein-Mann-Kolonnen von Paramilitärs auf dem Rückweg von den Wahllokalen wurden von jungen Männern umtanzt, gehänselt, verhöhnt. „Go India, Go Back“ stichelten sie. Die Soldaten gingen stoisch weiter, mit dem Vollgepäck auf dem Rücken und umgehängtem Gewehr. Sie vermieden jeden Augenkontakt, reagierten auf keine verbale Provokation.
Viraler Flash
Das Video-Clip dieses Spiessrutenlaufs verbreitete sich mit rasanter Schnelligkeit in ganz Indien, über Smartphones und TV-Kanäle. Aufgebrachte Politiker und TV-Kommentatoren riefen „Genug ist genug“ und sprachen von Landesverrätern. Vergangene Woche kam es zu ersten Zwischenfällen ausserhalb Kaschmirs. In mehreren nordindischen Universitäten wurden kaschmirische Studenten angegriffen, Unbekannte schlugen in verschiedenen Städten Schaufenster von Geschäften ein.
Es fällt schwer zu glauben, dass der Konflikt mit diesem neuen Kriegsgerät eine neue Dimension gewinnt. Im Gegenteil, mit seinem tausendfach und sofort verbreiteten Narrativ von Leiden und Unrecht scheint er lediglich eine weitere Spirale der Gewaltbereitschaft anzuzeigen.
Nichts zeigt dies deutlicher als ein weiteres Video-Clip, das in den letzten Tagen wie ein viraler Flash durch Hunderttausende kaschmirischer Smartphones blitzte. Es zeigt einen etwa fünfjährigen Knaben, der in einer Strasse irgendwo in der Region ganz allein zwischen indischen Soldaten herumläuft, die dort postiert sind. Er stampft, schreit, schaut die Jawans böse an. Dann versucht der Knirps, der den Soldaten kaum bis zu den Stiefeln reicht, einem von ihnen einen Fusstritt zu geben. Die Uniformierten bleiben cool, einige von ihnen lachen.