„Es war, als kämen der Nord- und der Südpol zusammen“, sagte Mufti Mohammed Sayeed, als er am letzten Freitag vor die Medien trat. Soeben hatte der kaschmirische Politiker anderthalb Stunden mit Premierminister Narendra Modi verbracht. Über die Fernsehkanäle liefen bereits die Bilder von der Bären-Umarmung, mit der sich die beiden alten Männer begrüsst hatten.
Der Ausdruck war nicht narzisstische Überheblichkeit, wie sie so vielen Politikern eigen ist. Nach zwei Monaten harter Verhandlungen war ‚Mufti’ zu müde, sich aufzuplustern. Das Bild der Pole war eine präzise Metapher für die tektonische Verschiebung, die sich in der granitharten Beziehung zwischen dem indischen Staat und Kaschmir anzubahnen schien.
Plötzlich diese Umarmung
Die beiden umarmungsfreudigen Politiker sind keine Brothers in Arms, sondern besetzen scharf abweichende Positionen. Auf der einen Seite ist Muftis autonomistische ‚People’s Democratic Party’(PDP), am andern Ende des Spektrums Modis religiös gefärbter Nationalismus, der dem indischen Nordzipfel seinen Sonderstatus verweigert.
Nun, plötzlich, diese Umarmung, die Kommentatoren bereits an die Treffen Sadat/Begin, Reagan/Gorbatschow, den Friedensprozess in Nordirland erinnert. Drei Entwicklungen haben sie möglich gemacht: Die Machtübernahme der BJP und die Einbindung des Scharfmachers Modi in den Mantel – und die Zwangsjacke – des Landesvaters; der Ausgang der kürzlichen Regionalwahl im Gliedstaat Jammu&Kaschmir; und die politische Abdankung der Kongresspartei in beiden Wahlen.
Mit Ausgrenzung kein „Staat“ machen
Anders als seine ideologischen Kampfgefährten weiss der Machtmensch Modi, dass in einem demokratischen Land mit offenem Hass und Ausgrenzung kein ‚Staat’ zu machen ist. Im Wahlkampf war die hindu-majoritäre Ideologie eine Leerstelle geblieben: stattdessen hatte Modi das Bild eines starken, geeinten, Staats gezeichnet. Nicht dass er seine tiefsten Überzeugungen über Bord geworfen hätte. Aber er ist klug genug anzuerkennen – und hat es in Gujerat vorgeführt – dass eine majoritäre Ideologie in einem Staat mit starken Minderheitenschutz subtil und schrittweise durchgesetzt werden muss.
Modi lernt auch die föderale Struktur Indiens kennen. Ein Parlamentssieg ist ein halbgewonnener Krieg. Im Oberhaus bestimmen die Gliedstaaten ihre Vertreter. Um hier eine Mehrheit zu erhalten, müssen die Landesparlamente gewonnen werden. Das ist die Aufgabe von Modis Parteichef Amit Shah, denn die BJP verfügt in der ‚Rajya Sabha’ nur über ein Viertel der Sitze. Bereits hat er in vier Regionalwahlen eine reiche Beute eingebracht. Nur Delhi ging ihm, auf spektakuläre Art, durchs Netz.
Modi wusste, dass ein BJP-Sieg in der Regionalwahl in Jammu&Kaschmir ausgeschlossen war. Es spricht für ihn, dass er der Versuchung widerstand, durch Abseitsstehen die Ausgrenzung des einzigen Bundesstaats mit einer muslimischen Minderheit noch zu vergrössern. Zudem leben im Teilstaat von Jammu viele Hindus, und es war für die BJP ein Leichtes, sich als Garant dieser Minderheit (40% der Wähler) zu positionieren.
Kaschmirische Infifada
Mufti Sayeed ist ein altgedienter Politiker, ursprünglich in der Kongresspartei beheimatet. Aber er fühlte sich dort nie wohl. Für ihn ist das Kaschmirproblem nicht nur Ausdruck der ethnischen Spannung zwischen Hindus und Muslimen, und der darauf bauenden Rivalität zwischen Indien und Pakistan. Der Graben war von Parteien und Politikern genutzt worden, um ihre Machtinteressen zu wahren. Die Kongresspartei und die kaschmirische ‚Nationale Konferenz’ von Sheikh Abdullah und dessen Familie verstanden es, mit den ethnischen Ungleichgewichten jahrzehntelang zu jonglieren und in Srinagar die Macht auszuüben.
Es war diese zynische Manipulation, die zur kaschmirischen Intifada führte, und die dann von Pakistan tüchtig zu eigenen Zwecken unterfeuert wurde. Sie begann mit der Entführung von Muftis Tochter Rubaya im Jahr 1989, als dieser indischer Innenminister war. Die bittere Erfahrung bewog ihn, aus der abgekarteten Spielanlage auszuscheren und eine eigene Partei zu gründen.
Auf den historischen Gegner zugegangen
Muftis lange politische Erfahrung – und mehrere Attentatsversuche – liessen ihn zur Überzeugung kommen, dass eine Lösung des Kaschmirproblems nur mit der BJP, dem härtesten Autonomiegegner, möglich war. In ähnlichen Konflikten – im Panjab, in Assam – hatte sich erwiesen, dass die Kongresspartei nach Jahrzehnten von Intrigen und Kompromissen ihr politisches Kapital verspielt hatte. Es war die BJP-Regierung von A.B.Vajpayee, die regionale Ansprüche anerkannt und damit eine Lösung ermöglicht hatte. Warum nicht in Kaschmir?
Die Wahlresultate boten Mufti und Modi ein fast zwingende Plattform dafür: Die ‚Nationale Konferenz’ der Abdullah-Familie und der Kongress verloren ihre Hochburgen im Kaschmirtal und in Jammu an PDP und BJP. Statt wie üblich unter dem Mäntelchen des ‚Säkularismus’ eine Koalition der ‚Anti-BJP-Kräfte’ anzustreben, riskierte Mufti Sayeed sein Lebenswerk und ging auf den historischen Gegner zu.
„Die Wahrheit ist bitter“
In die tektonischen Platten von Nord- und Südpol – Srinagar und Delhi – kam Bewegung. Doch das Bild zeigt, dass es nicht ohne Erschütterungen, ohne Knirschen und Ächzen abgehen würde. Beim Medienauftritt am Freitag zitierte Mufti eine weitere Volksweisheit, die dies unterstrich: „Die Wahrheit ist bitter“, sagte er, „selbst wenn sie eine unbezahlbare Perle ist“. Nur weil sie für beide Seiten schier ungeniessbar war, liess sie sich schlucken.
Beide Seiten waren mit dem Versprechen in die Verhandlungen gestiegen, in zwei Bereichen unbeugsam zu bleiben, ‚Artikel 370’ und ‚AFSPA’. Artikel 370 ist der Paragraf des Grundgesetzes von 1950, in dem Kaschmir besondere Vorrechte eingeräumt wurden – eine eigene Verfassung, eine eigene Flagge, ein Staatsoberhaupt. Für die BJP hat diese Sonderbestimmung den ‚Partikularismus’ der Kaschmirer nicht bestätigt, sondern erst eigentlich geschaffen. Für die PDP ist er der Eckstein von dessen Autonomie.
Zwei Monate harte Verhandlungen
Ähnlich beim ‚AFSPA’. Es ist das Kürzel für ‚Armed Forces Special Powers Act’, ein unseliges Gesetz, das die Armee-Einsätze gegen die Zivilbevölkerung weitgehend vor juristischer Verantwortlichkeit schützt. Für die BJP ist es ein notwendiges Instrument zur Bekämpfung des Terrorismus. Für die PDP hat es Kaschmir in einen fremd besetzten Staat verwandelt.
Nach zwei Monaten harter Verhandlungen haben beide Seiten letzte Woche dennoch ein gemeinsames Programm verabschieden können. Artikel 370 wird (stillschweigend) nicht angerührt, AFSPA wird suspendiert, wenn die Sicherheitslage dies zulässt; Delhi kann im Ernstfall das Gesetz wieder in Kraft setzen.
„Sieg der Demokratie“
Die beiden Sprengbomben werden entschärft durch zahlreiche gemeinsame Ziele im Bereich wirtschaftliche Entwicklung und Bildung. Beide Seiten sind sich auch einig, dass die 70'000 Hindu-Familien, die in den Neunziger Jahren vom Konflikt aus dem Kaschmirtal vertrieben wurden wieder in ihre Heimat zurückkehren können. Sie hausen seit 25 Jahren in Flüchtlingslagern in Delhi und Jammu – ein Schandmal für die gesamte politische Elite.
Am Sonntag wurde Mufti Mohammed Sayeed als Chefminister von J&K vereidigt. Es sei ein Sieg der Demokratie, rief er aus. Er meinte die kaschmirischen Wähler, die – trotz Drohungen aus dem bewaffneten Untergrund – in grosser Zahl an die Urnen gegangen waren. Er spielte aber auch auf Indiens Demokratie an, die immer wieder blutige Konflikte schwären lässt, am Ende aber fähig ist, die enormen Spannungen von Ethnie, Klasse und Kaste aufzufangen und auf ein zerbrechliches Gleichgewicht zu verteilen.