Die Nationalmannschaft Rwandas lag in ihrem WM-Qualifikationsspiel gegen Eritrea lange Zeit nur knapp mit 1:0 in Führung. „Wir dürfen uns jetzt nicht zurücklehnen“, murmelte besorgt ein Zuschauer auf der Tribüne des Stadions in Kigali, der Hauptstadt Rwandas. Erst tief in der zweiten Halbzeit gelangen den Gastgebern zwei erlösende Tore. Trotz der Zuversicht der nach Abpfiff vor dem Stadion euphorisch hupenden Fans wäre die Teilnahme des zentralafrikanischen Kleinstaats an der WM eine Überraschung. In der FIFA-Nationenwertungliegt Rwanda zwar im Mittelfeld, der soeben bezwungene Gegner Eritrea jedoch ganz weit hinten.
Geringe Korruption
Nahe beieinander befinden sich die beiden Länder dagegen im Ranking der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen: Eritrea belegt den allerletzten Platz, Rwanda liegt bloss zehn Plätze besser placiert auf Rang 168, Prognose stark sinkend. Spätestens seit Präsident Paul Kagame im August 2010 mit 93 Prozent Stimmenanteil wiedergewählt wurde, muss er sich regelmässig Fragen zur politischen Freiheit im mit gut 26 000 Quadratkilometern viertkleinsten Land des afrikanischen Festlands gefallen lassen. Kagame verweist bei Fragen zur politischen Freiheit auf die rasante wirtschaftliche Entwicklung seines Landes. „Geht es uns heute nicht besser, als es uns jemals ging?“, fragt er rhetorisch.
Umso gereizter reagierte die rwandische Regierung auf die im November publizierte Einschätzung der Vereinten Nationen, die Rwanda für 2011 im Human Development Index einen Platz unter dem Durchschnitt Afrikas südlich der Sahara attestierte. Kigali protestierte vehement gegen die fehlerhafte Methodologie der Studie, die Uno musste die Verwendung veralteter Daten eingestehen.
Tatsächlich ist Rwanda mit einem Bruttonationaleinkommen von 540 US-Dollar im weltweiten Vergleich weiterhin arm, gehört aber auch zu den am wenigsten korrupten, wirtschaftlich wettbewerbsfähigsten Staaten Afrikas. Die Primarschulen sind kostenlos, die obligatorische Krankenversicherung deckt praktisch alle Bürger, Plastiksäcke sind aus Umweltgründen im ganzen Land verboten.
Erinnern und Vergessen
Nach 30 km auf der löcherfreien Schnellstrasse, die von Kigali in Richtung Süden führt, biegt man auf eine Naturstrasse ins Dorf Ntarama ab. „Vor dem Genozid versammelte sich hier die Kirchgemeinde“, erklärt die Führerin beim Rundgang durch den Gebäudekomplex der Kirche von Ntarama, wo im Frühjahr 1994 5000 Menschen ermordet wurden. Im Innern des schlichten Baus aus roten Backsteinen liegen Hunderte von Schädeln und Knochen, dazu sind Kleider, Schuhe, Brillen und Kugelschreiber der Ermordeten ausgestellt. Im Nebengebäude der ehemaligen Sonntagsschule zeigt die Führerin auf einen dunklen Fleck an der Wand. „Dort wurden die Köpfe der Kinder an die Wand geschlagen.“
Innerhalb von 100 Tagen ab dem 6. April 1994 wurden in Rwanda geschätzte 800 000 Menschen umgebracht. Nicht enthalten in dieser Zahl sind Hundertausende Tutsi und Hutu, die in den Jahren der Unruhen vor und nach 1994 in Rwanda und auf der Flucht in die Nachbarländer durch Gewalt starben oder an Krankheit und Strapazen verelendeten.
Die durch den rwandischen Bürgerkrieg, den Völkermord und die darauffolgenden Racheakte ausgelösten Flüchtlingsströme, vor allem in den Kongo, führten ab Mitte der neunziger Jahre zu einem Jahrzehnt der Gewalt in der Region der Grossen Seen. Elf afrikanische Länder waren darin verwickelt, die Zahl der auf verschiedenste Weise gestorbenen Menschen wird auf mehrere Millionen geschätzt. So gesehen mag der Völkermord in Rwanda wie ein Kapitel einer langen Leidensgeschichte erscheinen.
Doch ein Genozid ist auch einzigartig in seiner abscheulichen Systematik, und daran erinnern in Rwanda Hunderte von kleinen Denkmälern, mehrere nationale Gedenkstätten wie die Kirche in Ntarama und ein modernes Museum in Kigali. Allerdings erinnern diese Stätten nicht an alle Opfer des Völkermordes. In Rwanda wird offiziell an den „Genozid an den Tutsi“ erinnert, wie die seit 2008 in der Verfassung verankerte offizielle Bezeichnung lautet.
Zwei Volksgruppen - eine fragwürdige Unterscheidung
Die Worte Hutu und Tutsi spricht man in Rwanda nur leise aus - offiziell gilt diese Unterscheidung bestenfalls als rückständig, schlimmstenfalls als Zeichen subversiver Absichten. Was man in der Öffentlichkeit verschweigt, kann man gut im Auto diskutieren. „Tutsi und Hutu erkennt man an ihren Nasen“, meint Bosco, ein Taxifahrer in Kigali, überzeugt. Er zeigt vom Steuer seines Kleinwagens auf Menschen in den Strassen: „Die Frau da, das ist eine Tutsi. Und der da mit dem Kind, der ist ein Hutu.“ Hutu könnten Tutsi zwar heiraten, meint er, aber in der Praxis wollten Tutsi-Familien dies nicht erlauben. Dann will der tiefgläubige Christ dem Besucher eine Frage stellen: „Stimmt es, dass Kirchen in Europa zu Discos umfunktioniert werden?“, wie es ihm ein westlicher Glaubensbruder erzählt hat.
Mit der Kirche fing das Problem Rwandas für Benjamin Sehene, ein aus Rwanda stammender Schriftsteller, der in Frankreich lebt, an. Deren Missionare setzten 1931 den letzten spirituell legitimierten Monarchen ab. „Die traditionellen sozialen und spirituellen Strukturen des Landes wurden als heidnisch verboten, obwohl sie sozialen Zusammenhalt gaben, indem sie die [...] ethnischen Gruppen zusammenfügten“, schreibt Sehene. Die moderne Wissenschaft bezeichnet Hutu und Tutsi nicht als Ethnien, sondern als sozio-ökonomische Kategorien viehhaltender Tutsi und Hutu-Bauern.
Die beiden Gruppen könnten historisch verschiedener Herkunft sein, aber in Rwanda teilten sie jahrhundertelang Sprache (kinyarwanda), Religion und Territorium. Erst die von damals gängigen Rassentheorien geprägten belgischen Kolonialherren vermassen Schädel und Nasen und glaubten einen klaren Unterschied auszumachen. Sie bevorzugten stets eine Gruppe zuungunsten der anderen, zuerst die angeblich „kaukasischen“ Tutsi, dann aus scheinbar egalitärer Überlegung die mehrheitlichen Hutu. Sehene spricht von einer kollektiven Amnesie der gemeinsamen Kultur, wodurch die Volksgruppe zur definierenden Eigenschaft des rwandischen Individuums werden konnte.
Eine alte Tradition der Streitschlichtung
Auf die Sauberkeit im ganzen Land, die funktionierenden Strassenlaternen, die freundlich grüssenden Polizisten an jeder Strassenecke und die funktionierende Müllabfuhr angesprochen, verweisen viele Rwander auf ihre Tradition. Dazu gehört auch umuganda, eine präkoloniale Institution der gemeinnützigen Arbeit, die von der Regierung Kagame neu belebt wurde. An jedem dritten Samstag des Monats pflanzen Nachbarn gemeinsam Bäume, ebnen unbefestigte Strassen, reinigen Abflüsse. Nicht jeder macht jedes Mal mit, aber mindestens einer pro Haushalt wird erwartet. Mit gutem Beispiel voran geht Präsident Kagame, der sich beim Anpacken gerne filmen lässt und auch schon mal Staatsoberhäupter auf Besuch zum umuganda mitgenommen hat.
Einen weiteren Brauch der rwandischen Kultur belebte die Regierung als die Gefängnisse Rwandas in den Jahren nach dem Genozid mit verdächtigten "génocidaires" zu bersten drohten: Im Gras, gacaca in der Landessprache (ausgesprochen: gatschatscha), versammelte sich die Dorfgemeinschaft früher, um Streit zu schlichten. Für die Drahtzieher der Tötungskampagne war bereits seit 1994 der Internationale Strafgerichtshof für Rwanda in Arusha, Tanzania, zuständig. Nun sollten gacaca-Gerichte in allen Gemeinden die von Tausenden von Rwandern begangenen Verbrechen aufarbeiten.
Die Regierung versprach sich von den aus der eigenen Tradition entlehnten Gemeindegerichten eine partizipative, kulturell authentische Justiz. Ab 2005 tagten in über 10 000 Gemeinden des Landes wöchentlich Gerichte unter freiem Himmel, zeichneten zuerst alle vor Ort begangenen Greueltaten auf und handelten dann jede Anklage einzeln ab. Im vielleicht grössten jemals unternommenen gerichtlichen Aufarbeitungsprozess wurden in Rwanda bis 2010 auf diese Weise 1,5 Millionen Urteile gefällt.
Hat die gacaca-Justiz die Aussöhnung der rwandischen Gesellschaft gefördert? Externe Beobachter sind skeptisch und bemängeln in erster Linie die Einmischung der Regierung in den Gerichtsprozess. Timothy Longman, Direktor des African Studies Center an der Boston University, meint, die ursprünglich gute Idee der partizipativen Justiz sei in der Praxis stark politisiert geworden. Regierungsvertreter hätten den gacaca-Versammlungen deutlich zu verstehen gegeben, dass nur „génocidaires“ angeklagt werden könnten. „Und génocidaire bedeutet im Klartext Hutu“, sagt Longman, der in den Jahren nach dem Völkermord in Rwanda für die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch arbeitete und an der grössten rwandischen Universität in Butare unterrichtete.
So seien fast ausschliesslich Hutu für Vergehen an Tutsi verurteilt worden, wodurch eine kollektive Schuld der ersteren impliziert werde. Auf diese Weise, so Longman, seien durch die gacaca-Prozesse in Rwanda weniger das Geschehene aufgearbeitet als das „ethnische Bewusstsein noch gesteigert und Spannungen verstärkt“ worden.
Kagame – ein afrikanische Adenauer?
Siebzehn Jahre nach dem Völkermord sträubt sich mancher Besucher in Rwanda, die Ordnung und Ruhe zu akzeptieren. Ein hochrangiger kanadischer Uno-Berater des Justizministeriums in Kigali nennt Rwanda ein Potemkinsches Dorf und fügt etwas fahrlässig an, erneute Gewalt sei nur eine Frage der Zeit, da die minderheitlichen Tutsi überproportional in hohen Positionen in Staat, Armee und Wirtschaft vertreten seien und den mehrheitlichen Hutu zudem eine einseitige Geschichtsschreibung aufzwängten.
Einiges subtiler ist die Analyse von Philip Gourevitch, einem langjährigen Beobachter des zentralafrikanischen Kleinstaats. Die Regierung von Paul Kagames basiere auf einer Gründungsdoktrin, die aus jedem Bürger in erster Linie einen Rwander macht und die nach dem Genozid zerbrochene Nation zusammenkitten soll. Und diese rwandische Identität, so Gourevitch, habe zwar „den Vorteil, mehrheitlich wahr zu sein, aber auch den Nachteil jedes universellen Diktats, dass viele andere Wahrheiten unterdrückt, verwischt und übersehen werden müssen.“
An Paul Kagame, der kein Geheimnis daraus macht, dass er sich am Entwicklungsmodell Singapurs orientiert, spalten sich die Meinungen ausländischer Beobachter. Die einen meinen, in ihm einen afrikanischen Adenauer zu erkennen, der das Land stabilisiere und den Wiederaufbau ermögliche. Andere sehen in ihm einen Diktator, allenfalls einen wohlwollenden, der die Meinungsfreiheit schonungslos unterdrücke. Der Impuls des Westens, in Rwanda auf politische Freiheiten zu pochen, muss gegen die von Kagame herbeigeführte Stabilität abgewogen werden. Ob sich Rwanda auf dem Weg zur Überwindung seines Traumas befindet oder sich auf neue innere Konflikte zubewegt, ist zu diesem Zeitpunkt noch offen.