Neben den ungelösten Sicherheitsfragen gibt es politische Grundprobleme, die ebenfalls einer Lösung harren. Nichte zuletzt geht es um den Status der Kurden im Norden, die ihr Erdöl selbst verwalten.
Die Regierung hat am 15. Januar eine Budgetkrise hervorgerufen, und sie hat diese mit einer Krise über die Provinzgrenzen zu lösen versucht. Parlamentswahlen stehen auf den 30. April bevor, ihre Vorbereitungen haben bereits begonnen. Nuri al-Maleki hat sich zum Ziel gesetzt, ein drittes Mandat als Ministerpräsident zu erlangen. Ob er dies erreichen kann, wird nicht nur von der Stimmenzahl abhängen, die seine Partei erzielt; möglicherweise mehr noch von seiner Geschicklichkeit und Zähigkeit bei den Koalitionsverhandlungen, die er nach den Wahlen wird führen müssen.
Streit über die Erdölgelder
Ein Budget Entwurf wurde am 15. Januar dem Parlament vorgelegt. Darin stand, dass die Erdöl produzierenden Provinzen des Iraks künftig einen Dollar pro Barrel Rohöl erhalten sollen, das in ihrer Provinz produziert wird. Für Erdgas wurde eine vergleichbare Summe festgelegt. Im Irakischen Grundgesetz steht, dass die Erdöl produzierenden oder raffinierenden Provinzen ein Anrecht auf ein Sondereinkommen besässen, das ihrer Fördermenge entspricht.
Im vergangenen Jahr hat das Parlament Gesetze verabschiedet, wie diese Beträge zu berechnen seien. Nach ihnen, so sagen die Erdölprovinzen, sollten sie fünf Dollar pro Barrel erhalten. Aus diesem Grund haben sich acht Provinzgouverneure aus den Erdöl produzierenden Provinzen zusammengetan, und sie haben beschlossen, die Regierung auf dem Rechtsweg zu zwingen, diese Regeln einzuhalten. Drohungen wurden auch laut, wenn sie ihr Recht nicht erlangten, könnten sie die Erdölleitungen sperren, die aus ihren Provinzen in die Raffinerien und in die Erdölexporthäfen führen.
Neue Provinz-Einteilung ?
Die Zentralregierung antwortete auf diese Drohungen dadurch, dass sie Pläne entwarf, um die Provinzeinteilung neu festzulegen. Wenn die neuen Abgrenzungen gesetzliche Gültigkeit erlangen, werden die bisherigen Provinzbehörden abgesetzt und neue müssen gewählt werden. Die gegenwärtigen wurden auf Grund von Lokalwahlen im vergangenen Jahr gewählt, und diese Lokalwahlen hatten Rückschläge für die Partei al-Malekis gebracht.
Die Pläne für eine neue Provinz-Einteilung haben zunächst dafür gesorgt, dass die Provinzpolitiker sich primär mit dieser Frage befassen. Sie betrifft ihre eigenen Machtpositionen. Die Frage der Erdölgelder ist für den Augenblick überspielt.
Oder gar eine Föderation?
Doch auch die Provinzpolitiker haben die Möglichkeit, ihrerseits Druck auf die Regierung auszuüben. Die geltende irakische Verfassung sieht vor, dass die Frage, ob das Land in autonome Gebiete unterteilt werden soll, oder ob es zentral gelenkt bleibt, von den künftigen Parlamenten zu entscheiden sei. Bisher wurde jedoch dieses heisse Eisen nie angepackt.
Nur die drei kurdischen Provinzen bewahrten sich eine sehr weitgehende Autonomie mit eigenen Streitkräften und eigener Polizei. Sie waren schon vor dem amerikanischen Angriff auf Saddam Hussein de facto unabhängig geworden und konnten ihre Autonomie seither festigen.
Nun aber werfen die Provinzbehörden die Autonomiefrage für ihre Landesteile auf, um den Anstalten der Regierung, neue Provinzgrenzen festzulegen, entgegenzutreten. Auch angesichts der immer wachsenden blutigen Reibungen zwischen den schiitischen Zentralbehörden und den sich zurückgesetzt sehenden Sunniten, gewinnt die Idee einer Scheidung in südliche schiitische, und nördliche sunnitische Landesteile an Anziehungskraft.
Drittes Mandat für al-Maleki?
Was das dritte Mandat für al-Maleki angeht, so steht in der Verfassung nichts von einer Beschränkung der Mandate des Ministerpräsidenten. Doch das irakische Parlament hatte mit einer klaren Mehrheit ein Gesetz verabschiedet, das al-Maleki ein drittes Mandat untersagte. Dieses Gesetz jedoch wurde vom Verfassungsgericht als verfassungswidrig aufgehoben. Die Begründung war, das Parlament könne keine Gesetze aufstellen. Dies sei die Aufgabe der Regierung. Dem Parlament stehe nur zu, die Gesetzesvorschläge der Regierung zu bewilligen oder abzulehnen.
Al-Maleki hat während seines letzten Mandates sehr selbstherrlich regiert. Er behielt zunächst das Innenministerium und das Verteidigungsministerium unter seiner persönlichen Aufsicht. Später vertraute er ihre Leitung engen Gefolgsleuten an. Dies bewirkte dass Polizei, Armee und Geheimdienste zu Instrumenten seiner schiitischen Partei wurden, die sich "State of Law" nennt, also "Rechtsstaatspartei". Die Ressentiments der Sunniten wurden dadurch gestärkt. Doch auch viele schiitische Gruppierungen ausserhalb der Partei des Ministerpräsidenten, die zu der gegenwärtigen Regierungskoalition gehören, fühlen sich benachteiligt.
Das Erdöl "der Kurden"
Es gibt weiter eine bereits alte aber sich verschärfende Krise zwischen der Zentralregierung und den Kurden. Auch sie dreht sich um Erdöl. Die Kurden sind der Ansicht, sie hätten ein Recht darauf, das in ihrem Gebiet geförderte Erdöl selbst zu exportieren und zu verkaufen. Sie haben eine Erdölleitung fertig gestellt, die zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan führt. Sie haben bereits zwei Millionen Barrel nach der Türkei exportiert und sie planen ihre Exporte im Lauf dieses Jahres auf 1o bis 12 Millionen Barrels pro Monat zu steigern. Sie haben auch Förderverträge mit ausländischen Erdölgesellschaften abgeschlossen.
Das Erdölministerium der Zentralregierung erklärt, sie hätten kein Recht darauf, dies zu tun. Das in die Türkei exportierte Petroleum sei "gestohlen". Doch die rechtliche Lage ist auch auf diesem Gebiet ungewiss. Eigentlich hätte seit langer Zeit ein irakisches Erdölgesetz verabschiedet werden sollen, wie es die Verfassung vorsieht. Dieses hätte die rechtliche Lage zu klären. Doch die Regierung und das Parlament haben sich bisher nicht entschliessen können, die heisse Frage der Erdölförderung und der Aufteilung der Erdölgewinne gesamtheitlich anzugehen. Sie hätte wahrscheinlich die regierende Koalition gesprengt.
Weil es kein neues Erdölgesetz gibt, gilt in den Augen Bagdads jenes, das aus der Zeit Saddams stammt. Dieses ist zentralistisch und gibt dem Erdölministerium in Bagdad alle Entscheidungsgewalt. Die Kurden jedoch sind der Ansicht, die Zeit Saddams sei vorbei. Seine Gesetze gälten nicht mehr. Sie handelten daher nicht unrechtmässig, wenn sie "ihr" Erdöl direkt auf den Weltmarkt brächten.
Der Streit hat sich neuerdings verschärft, weil der vorgelegte Budgetvorschlag offen lässt, wieviel Geld künftig der irakische Staat dem kurdischen Autonomiegebiet als seinen Anteil an dem Erdöleinkommen des Iraks abzutreten habe. Die Sache ist kritisch für alle Beteiligten, weil alle staatlichen Stellen und Unternehmen, in der Zentrale,in den Provinzen und im autonomen Kurdistan, viel mehr vom Erdöleinkommen leben als von Steuern, die einzuziehen sie unfähig sind.
Muqtada Sadr löst seine Partei auf
Weitere Ungewissheit bringt die Überraschung für welche Muqtada as-Sadr gesorgt hat. As-Sadr, der Abkömmling einer grossen und als heilig erachteten Ayatullah Familie besitzt eine grosse Gefolgschaft in den Armutsvierteln der Schiiten Bagdads und anderer Städte. Er gründete und steuerte eine politische Partei, die zur Zeit der Amerikaner auch eine Miliz bildete und kriegerisch auftrat. Diese Miliz war mit den Amerikanern zusammengestossen und hatte in den blutigen Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten in Bagdad der Jahre 2006 und 2007 eine unheilvolle Rolle gespielt. Im Jahr 2007 hat as-Sadr sie aufgelöst und nur die politische Partei beibehalten. Diese verfügt im gegenwärtigen Parlament über 40 Sitze. Sie gehört zur Regierungskoalition und stellt sieben Minister. Muqtada as-Sadr selbst sah sich gezwungen, in Iran Zuflucht zu suchen; offiziell liegt er dort Studien ob. Doch vor einem Jahr ist er nach Bagdad zurückgekehrt und wurde von seinen Anhängern begeistert gefeiert.
Er hat nun plötzlich bekannt gegeben, er löse seine Partei auf. Er und seine Anhänger hätten keinerlei politische Aktivitäten mehr. Nur ihre Wohltätigkeitseinrichtungen blieben bestehen. Einen Grund für seinen Entschluss gab er nicht an. Dieser kam auch für seine Anhänger völlig überraschendi. Sein Auflösungsschreiben enthält Anspielungen auf Korruption, "die stattfand und die weiterhin stattfinden wird". Er wolle den Namen seiner Märtyrer Familie (zwei Ayatullahs aus der Sadr Familie fanden unter Saddam ihren Tod) rein halten von solchem Schmutz, sagt das in kurzen Sätzen gehaltene Sendschreiben.
Der Block der 40 schiitischen Sadristen im Parlament hat in der Vergangenheit mehrmals die Rolle eines Züngleins an der Waage gespielt, wenn es um den Bestand oder Zusammenbruch der grossen Koalition ging, mit welcher al-Maleki regiert. Was nun die 40 Abgeordneten ohne die Leitung as-Sadrs tun werden, ist ungewiss.
Auftakt zu den Wahlen im April
Trotz all diesen offenen Fragen und Krisen hat die Wahlkampagne für die Parlamentswahlen bereits begonnen. Es gibt 244 Kleingruppen, "Parteien" genannt, die sich zu 39 "Allianzen" zusammengeschlossen haben. Die einzelnen Parteien, aus denen die Allianzen sich zusammensetzen, bestehen meist aus einem lokal oder national bekannten Anführer und seinen Gefolgsleuten und Klienten. Die meisten Allianzen werden entweder von Schiiten oder von Sunniten gebildet, einige wenige sind gemischt. Etwa 24 "Parteien" aus Anbar und aus Ninawa (der Provinz von Mosul) nehmen nicht an den Wahlen teil wegen der Sicherheitslage. Die Wahllisten der 39 Allianzen müssen noch ausgehandelt und veröffentlicht werden.
Kurdistan ohne Regierung
Die Kurden führen eine kurdische Allianz in die gesamt-irakischen Wahlen. Intern für Kurdistan wurde ein kurdisches Parlament im vergangenen September gewählt. Doch eine neue kurdische Autonomieregierung ist immer noch nicht zustande gekommen, weil die Wahlen ergaben, dass eine dritte Partei von Bedeutung neben den beiden "historischen" Kurdenparteien entstand.
Die "historischen" Parteien sind PDK (Kurdische Demokratische Partei) und PUK (Kurdische Unionspartei). Doch eine neue Partei, die sich "Bewegung für Änderung" nennt, hat in den internen kurdischen Wahlen mehr Stimmen gewonnen als PUK. Sie erhebt Anspruch auf den Posten des Stellvertretenden Ministerpräsidenten, welchen PUK ihr jedoch nicht abtreten will.
Krisen als Machtinstrument ?
Es gibt Kritiker des Ministerpräsidenten, die öffentlich erklären, al-Maleki schaffe absichtlich immer neue Krisen, um durch die neuen die alten zu überspielen. Vielleicht, so vermuten sie, häuft er die Krisen an, um die Wahlen im letzten Augenblick abzublasen und aufzuschieben. Dadurch würde er weiterhin an der Macht bleiben. Die Anhänger des Ministerpräsidenten streiten das ab. Deutlich ist jedenfalls, dass die ungelösten Grundprobleme des Staates sich häufen. Neuwahlen alleine werden schwerlich ein Mittel sein, um sie einer Lösung entgegenzuführen.