In Kanada sind seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehr als 150’000 indigene Kinder von den Eltern getrennt und in Internate gesteckt worden. Nicht alle überlebten sie die Zwangsassimilation. Noch immer werden ihre unmarkierten Gräber gefunden.
Im vergangenen Januar teilte Chief Chris Skead von der Anishinabwe der Wauzhushk Onigum Nation mit, auf dem Gelände der St. Mary’s Indian Residential School in Kenora (Provinz Ottawa) seien dank des Einsatzes von Bodenradar (GPR) 171 mutmassliche Gräber früherer Schülerinnen und Schülern gefunden worden. Lediglich fünf der Gräber seien markiert gewesen. Ein katholischer Orden hatte die Schule von 1897 bis 1972 im Auftrag der kanadischen Regierung geführt.
Ähnliche Berichte gibt es in Kanada seit Mai 2021, als eine indigene Gemeinschaft in British Columbia bekannt gab, sie habe wahrscheinlich 215 unmarkierte Kindergräber lokalisieren können, welche sich bei der Kamloops Indian Residential School in British Columbia befinden. «Es ist die harsche Realität und es ist unsere Wahrheit, es ist unsere Geschichte», sagte Chief Rosanne Casimir von der Tk’emlups Secwepeme Nation: «Und es ist etwas, was zu beweisen wir stets haben kämpfen müssen. Für mich war es immer eine schreckliche, schreckliche Geschichte.»
«Weil wir Heiden waren»
Einen Monat später meldete Chief Delorme von der Cowesses First Nation, bei der Marieval Residential School in der Nähe von Regina in der Provinz Saskatchewan seien 751 unmarkierte Gräber entdeckt worden. Auch hier setzen die Suchtrupps Bodenradar ein, um die Gräber zu finden. «Dies war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ein Angriff gegen die Menschen der First Nation», stellte Chief Bobby Cameron fest, ein Vertreter indigener Gruppen der Provinz: «Das einzige Verbrechen, was wir je begangen haben, war es, indigen geboren zu werden.»
Die 80-jährige Florence Sparvier, seinerzeit eine Schülerin im Internat Marieval, erinnert sich, die Nonnen dort hätten Indigene verachtet: «Sie sagten uns, unsere Leute, unsere Eltern, unsere Grosseltern hätten keinen Weg zur Spiritualität gefunden, weil wir alle Heiden seien.»
Bereits eine von der Regierung in Ottawa 2008 eingesetzte Wahrheits- und Versöhnungskommission war zum Schluss gekommen, die Praxis, indigene Kinder von ihren Eltern zu trennen und sie in Residential Schools zu stecken, sei «kultureller Völkermord». In Kanada gab es 139 Internate, in denen zwischen 1883 bis zu ihrer Schliessung 1996 Schätzungen zufolge 150’000 indigene Kinder untergerbacht wurden. Sie mussten Englisch sprechen, hart arbeiten und wurden auch physisch und psychisch misshandelt.
4’100 verschwundene Kinder
Viele Kinder kehrten nie mehr zu ihren Eltern zurück und Familien wurden, wenn überhaupt, nur vage Erklärungen über den Verbleib ihrer Kinder gegeben. Sie seien, hiess es etwa, an einer Krankheit gestorben oder einfach weggelaufen. Die Regierungskommission schätzte, im Laufe der Jahrzehnte seien so rund 4’100 Kinder verschwunden. Ihr Vorsitzender, der indigene Richter Murray Sinclair, mutmasst, dass in Wirklichkeit weit mehr als 10’000 indigene Kinder dieses Schicksal erfahren haben.
Es ist unbekannt, unter welchen Umständen all diese Kinder damals in den Internaten gestorben sind. Etliche unter ihnen sind mutmasslich in der Tat als Folge von Krankheiten, Unfällen, Bränden oder missglückten Fluchtversuchen umgekommen. Einem kanadischen Anthropologieprofessor zufolge dürften etliche Residential Schools von Wellen tödlicher Infektionskrankheiten heimgesucht worden sein.
Überlebende haben vor der Wahrheits- und Versöhnungskommission ausgesagt, Priester hätten indigene Schülerinnen geschwängert und die Neugeborenen seien ihren jungen Müttern weggenommen und getötet worden. In einigen Fällen seien die Leichen in Öfen verbrannt worden.
Schwierige Vergangenheitsbewältigung
Die Entdeckung der Kindergräber hat in Kanada Bestürzung ausgelöst, einer Nation, die sich ähnlich wie das benachbarte Amerika schwer tut mit der Bewältigung der Geschichte, was das Verhältnis zu seinen Ureinwohnern betrifft. In Kanada haben indigene Völker seit Jahrzehnten ihren Angehörigen mündlich überliefert, dass Tausende von Kindern aus Internaten verschwinden seien. Bis heute sind sie häufig lediglich auf Skepsis gestossen. Die Gräber, die in St. Mary’s, Kamloops and Marieval gefunden worden sind, dürften das ändern.
Premier Justin Trudeau, seit 2015 im Amt, hat 2017 Kanadas Vergangenheit «der Demütigung, der Vernachlässigung und des Missbrauchs» gegenüber indigenen Völkern eingeräumt. Er sprach von einem Erbe «des systematischen Rassismus, der Diskriminierung und des Unrechts», das Indigenen widerfahren sei, und versprach in einer Rede vor der Uno-Generalversammlung Besserung. Noch 2009 hatte es die konservative Regierung unter Stephen Harper abgelehnt, Geld für die Suche nach dem Verbleib vermisster indigener Kinder zu sprechen.
2015 erklärte Trudeau die 94 Empfehlungen der Wahrheits- und Versöhnungskommission zu einer nationalen Priorität. Doch Fortschritte sind bisher eher bescheiden geblieben, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Umsetzung gewisser Empfehlungen ausserhalb der Kompetenz der Bundesregierung liegt. Kanada zählt heute 1,7 Millionen indigene Bürgerinnen und Bürger, die 4,9 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Zum Thema ist 2020 unter dem Titel «Indigene Völker in Kanada – der schwere Weg zur Verständigung» ein aufschlussreiches Buch des deutschen Korrespondenten Gerd Braune erschienen, der seit 1997 in Ottawa lebt.
Die grösste indigene Gruppe sind gemäss der Volkszählung von 2021 die First Nations («Indianer») mit 1,807 Millionen Personen vor den Métis («Mischlingen») mit 624’00 Personen. Die kleinste Gruppe bilden die Inuit (früher «Eskimos») mit 70’540 Personen. Sie sind häufig arm, arbeitslos, weniger gebildet, schlecht ernährt und suchen Zuflucht zu Alkohol und Drogen. Entsprechend ist unter Indigenen die Kriminalität ein Problem.
Entschuldigung des Papstes
Papst Franziskus hat sich am 25. Juli 2022 anlässlich seines sechstägigen Kanada-Besuchs für die Rolle der katholischen Kirche beim Missbrauch indigener Kinder entschuldigt. «Ich bitte demütig um Vergebung für das Böse, das so viele Christen an indigenen Völkern begangen haben», sagte der Pontifex auf dem Gelände der Ermineskin Residential School. Wobei mit «indigenen Völkern» wohl vor allem Kanadas indianische Ureinwohner gemeint waren. Noch 2018 hatte der Vatikan einen direkten Appell Justin Trudeaus für eine Entschuldigung der Kirche zurückgewiesen.
Katholische Orden, häufig Jesuiten, hatten seinerzeit für die Regierung in Ottawa 66 der 139 Internate geführt, in denen indigene Kinder unterrichtet wurden. Für rund ein Drittel der Schulen war die protestantische Kirche zuständig. «Sorry zu sagen macht das Ganze nicht ungeschehen», sagte Felisha Crier Hosein als Vertreterin ihrer verstorbenen indigenen Mutter nach den Äusserungen des Papstes. «Aber für die Ältesten bedeutet es viel.»
Franziskus erinnerte daran, dass ihm zwei Monate zuvor eine indigene Delegation anlässlich eines Treffens im Vatikan einen Satz von mit Perlen dekorierten Mokassins überreicht hatte zum Gedenken an jene Kinder, die aus den Internaten nicht mehr zurückgekehrt sind. Die Delegation habe ihn gebeten, die Mokassins nach Kanada zurückzubringen: «Sie haben seither meinen Kummer, meine Empörung und meine Schande wachgehalten.»
Quellen: The New York Times, National Public Radio (NPR), NZZ, Wikipedia