„Der letzte Sturm“ auf die Innenstadt von West-Mosul war schon am 27. Mai angekündigt worden. Doch noch immer dauern die Kämpfe an. Dass es schwierig sein würde, in die enge Altstadt einzudringen, wo die IS-Kämpfer ihre letzte Bastion verteidigen, war voraussehbar. Es war auch bekannt, dass sich immer noch gegen 200‘000 Zivilisten in der umzingelten Innenstadt aufhielten – die meisten von ihnen werden offenbar dazu gezwungen. Die IS-Kämpfer drohen, sie zu erschiessen, sollten sie es wagen, aus dem belagerten Stadtviertel zu flüchten.
Heckenschützen des „Islamische Staats“ feuern von Hausdächern herab auf die Soldaten der angreifenden irakischen Armee. Dies erschwert den Vormarsch der Iraker. Oft greifen Kampflugzeuge der amerikanischen Koalition in die Kämpfe ein. Doch den Heckenschützen gelingt es immer wieder, ihre Position schnell zu wechseln und von anderen Dächern aus zu feuern. Zudem fordern die amerikanischen Angriffe auch zivile Opfer. Ganze Häuser, von denen sich in der Altstadt viele in baufälligem Zustand befinden, stürzen ein.
Die Luftwaffenkommandanten unterstreichen stets, dass sie alle notwendigen Massnahmen träfen, um den Tod von Zivilisten zu vermeiden. Doch die meisten „befreiten“ Strassen liegen in Trümmern.
Verzweifelte Fluchtversuche
Obwohl sie bedroht werden, versuchen viele Zivilisten zu fliehen. Hunderten gelingt dies täglich. Doch nicht alle erreichen die Frontlinien, wo sie von irakischen Regierungssoldaten empfangen und mit Wasser versorgt werden. Die meisten Flüchtlinge sind Frauen und Kinder.
Junge, kriegstüchtige Männer sind selten. Die wenigen, die sich unter den Flüchtlingen befinden, werden verdächtigt, möglicherweise dem IS anzugehören. Getarnt als Flüchtlinge könnten sie versuchen, aus der umkämpften Stadt zu entkommen. Bevor die jungen Männer jedoch als Flüchtling anerkannt werden, müssen sie sich einem doppelten Sicherheitsverhör unterziehen.
Schläge und Folter
Es gibt Berichte, laut denen die Verhörten geschlagen und gefoltert wurden, um Geständnisse zu erpressen. Die Regierung im fernen Bagdad versichert, dass solche Missbräuche untersucht und abgestellt würden.
Verwundete Menschen, deren Verletzungen einigermassen professionell verbunden sind, gelten ebenfalls als verdächtig. Die Soldaten der Regierungsseite sind überzeugt, dass nur Personen, die dem IS nahestehen oder dazu gehören, Zugang zu den letzten Sanitätsstellen erhalten, die der IS noch immer für seine Kämpfer betreibt. Wer nicht dem IS nahesteht, so behaupten die Belagerer, dessen Wunden würden mit blossen Lumpen und Tüchern unsachgemäss und provisorisch verbunden.
„Rettet Euch – wenn ihr könnt!“
Während der vergangenen Wochen haben Flugzeuge Flugblätter abgeworfen. Darin wird die Zivilbevölkerung aufgerufen, nach Möglichkeit zu fliehen, aber zu vermeiden, sich auf offenen Strassen und Plätzen zu zeigen. Wie genau sie das bewerkstelligen sollen, bleibt einem jeden Einzelnen überlassen.
An guten Tagen soll es manchmal bis zu tausend Flüchtlingen gelingen, die Fronten zu überqueren. Doch an anderen Tagen, wenn die Kämpfe pausenlos andauern, sind die Zahlen viel kleiner. Da der Ansturm nun schon fast einen Monat lang dauert, kann man die Zahl der seither Geflüchteten auf bestenfalls 30‘000 schätzen. Das wäre weniger als ein Sechstel der 200‘000 Menschen, die man zu Beginn der Offensive in der Altstadt vermutete.
Die Moschee des Kalifats – gesprengt
Am vergangenen Mittwoch wurde gemeldet, die Regierungstruppen seien bis auf 50 Meter an die zentrale Nur ed-Din-Moschee herangekommen. Ihr schiefstehendes hohes Minarett war das Wahrzeichen von Mosul. In dieser Moschee hatte al-Bagdadi im Juni 2014 das Kalifat ausgerufen und sich selbst zum Kalifen erklärt. Eine Einnahme dieses symbolischen Ortes durch ihre Feinde wollte der IS vermeiden und sprengte deshalb sowohl die Moschee als auch das schiefe Minarett.
Der irakische Ministerpräsident al-Abadi erklärte, die Zerstörung sei ein Eingeständnis der Niederlage. Die Propagandaorgane des IS, die immer noch funktionieren, zögerten nicht zu behaupten, die Explosion, die auch auf Videoaufnahmen zu sehen ist, sei auf eine amerikanische Bombardierung zurückzuführen.
Keine Gnade für kapitulierende Kämpfer
Der Umstand, dass die IS-Kämpfer in den belagerten Stadtteilen keine Gnade erwarten können, falls sie sich ergeben oder zu fliehen versuchen, trägt gewiss dazu bei, den Fanatismus der Belagerten aufrecht zu erhalten und den Kampf solange hinzuziehen, bis die letzten der umzingelten Kämpfer kampfunfähig geworden sind oder ihr Leben verloren haben. Die irakischen Offiziere sprechen von wenigen Hundert Mann, die sich noch innerhalb der letzten belagerten Stadtteilen befänden. Doch sie verfügen immer noch über Munition und sogar bewaffnete Drohnen, die unversehens über den angreifenden irakischen Soldaten Handgranaten abwerfen.
Mit Nahrung und Wasser versorgen sich die IS-Kämpfer, indem sie Zivilisten zwingen, ihnen ihre letzten Vorräte zu überlassen. Ausländische Ärzte, welche die Kliniken in den kürzlich eroberten Teilen der Altstadt besuchen konnten, äusserten ihr Erstaunen über die reichlichen Vorräte an medizinischem Material und sogar modernen Geräten, das sie dort vorgefunden hätten. In Mosul werden die Waffen erst schweigen, wenn der letzte der IS-Kämpfer sein Leben verloren hat.
Kampf um Raqqa
Während im irakischen Mosul der Endkampf wahrscheinlich noch länger nicht zu Ende ist, sind im syrischen Raqqa arabische und kurdische Kämpfer fast bist ins Stadtzentrum vorgedrungen. Raqqa ist die zweite Haupstadt des „Islamischen Staats“. Doch auch hier gibt es eine Altstadt, in der sich die IS-Kämpfer verschanzt haben. Auch sie wollen offenbar bis zum bitteren Ende Widerstand leisten.
In Ostsyrien ist die Lage komplexer als im Irak, weil sich sehr viele rivalisierende Kräfte bekämpfen. Während die arabischen und kurdischen Kämpfer der „Syrischen Demokratischen Kräfte“ (SDF) mit amerikanischer Unterstützung in Raqqa eindringen, versuchen die Truppen Asads mit russischer und iranischer Hilfe Raqqa zu umgehen, um die südliche Nachbarprovinz Deir az-Zor dem IS zu entreissen. Je länger die Belagerung von Raqqa andauert, desto besser sind die Chancen der Asad-Armee, Deir az-Zor und die umliegende Provinz zurückzuerobern – ohne dabei von den arabischen und kurdischen Kämpfern der SDF gestört zu werden.