Der Kampf um die Macht in Syrien wird sowohl auf dem Schlachtfeld wie auf dem diplomatischen Parkett ausgefochten. Hinter den Kulissen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen in New York ringen die Weltmächte um Resolutionen, die den Lauf der Dinge bestimmen könnten. Auf der einen Seite stehen der Westen und die meisten arabischen Regierungen, auf der anderen das Assad-Regime und Russland. Konkret geht es derzeit um die humanitäre Hilfe für die vom Krieg in Mitleidenschaft gezogene Zivilbevölkerung.
Vorschlag für Hilfskorridore
Australien, Luxemburg und Jordanien haben einen Resolutionsentwurf unterbreitet, der die Einrichtung von vier Korridoren zur Lieferung von zivilen Hilfsgütern an die von Aufständischen kontrollierten Regionen zum Ziel hat. Dazu müsste einer der Grundsätze des Völkerrechts ausser Kraft gesetzt werden: die Souveränität der Regierungen über ihr gesamtes Staatsgebiet. Anlass dieser Initiative ist die Weigerung der Regierung in Damaskus, den internationalen Hilfswerken den Zugang zur gesamten vom Krieg betroffenen Bevölkerung zu gestatten. Laut Angaben der UNO sind 2,5 Millionen Menschen in Syrien dringend auf ausländischen Beistand angewiesen.
Vor einem Jahr noch ging die humanitäre Hilfe etwa je zur Hälfte an die von den Regierungstruppen und an die von den Rebellen beherrschten Gebiete. Derzeit gelangen mehr als 85 Prozent der Nahrungsmittellieferungen und über 70 Prozent der Medikamente in die vom Assad-Regime beherrschte Zone. Der Rest der zivilen Kriegsopfer geht leer aus. Mitschuld an dieser ungleichen Behandlung tragen natürlich die radikal-islamischen Gruppen, die jede Zusammenarbeit mit der UNO ablehnen. Sie kontrollieren wichtige Strassen und Verkehrsknotenpunkte. Das Haupthindernis stellt aber die Regierung dar, die, von ihren jüngsten militärischen Erfolgen gedopt, selber bestimmen will, wem die ausländischen Hilfsgüter zugute kommen sollen. Das Aushungern von Teilen der Bevölkerung gehört zu ihrer Kriegsstrategie.
Nun wäre es technisch nicht schwierig, UNO-Konvois mit Hilfsgütern aus der Türkei oder aus Jordanien nach Syrien in Bewegung zu setzen. Die syrischen Regierungstruppen kontrollieren die Staatsgrenzen bloss abschnittsweise. Es stellt sich aber die Rechtsfrage: Darf die UNO die Souveränität ihrer Mitgliedsstaaten ohne einen Beschluss des Sicherheitsrats verletzen? Der westliche Resolutionsentwurf zielt darauf ab, die rechtlichen Einschränkungen in diesem spezifischen Fall aufzuheben. Was hat mehr Gewicht: Millionen von Menschenleben oder ein juristisches Prinzip? Die von der UNO-Vollversammlung nach den Kriegen in Ex-Jugoslawien und dem Genozid in Ruanda angenommene Doktrin der „Schutzverantwortung“ (responsibility to protect) muss erneut ihre Gültigkeit beweisen.
Russland blockiert Durchsetzung von Hilfe
Der westliche Resolutionsentwurf sieht die Einrichtung von „humanitären Korridoren“ in Syrien vor, die notfalls militärisch geschützt werden sollen. Zu diesem Zweck läuft die Initiative unter dem Kapitel VII der UNO-Charta, das eine Durchsetzung der Beschlüsse mit Waffengewalt erlaubt. Russland lehnt diesen Antrag ab und droht mit seinem Veto, falls der Resolutionsentwurf zur Abstimmung gelangen sollte. Moskau hat einen Gegenvorschlag eingebracht, demzufolge lokale Waffenruhen zwischen den Kriegsparteien die Verteilung von Hilfsgütern an die Zivilbevölkerung ermöglichen sollen. Zwangsmassnahmen schliesst der russische Resolutionsentwurf aus. Beide Texte werden im Moment noch vertraulich behandelt – wohl in der Hoffnung, einen Kompromiss zu finden. Zu Optimismus besteht allerdings wenig Anlass.
Die russische Haltung ist widersprüchlich, weil Moskau gleichzeitig im Weltsicherheitsrat einen Resolutionsentwurf eingebracht hat, der die Schaffung „humanitärer Korridore“ für die mehrheitlich russischsprachige Bevölkerung der Ostukraine verlangt. Kann etwas für die Ostukraine gut sein, was für Syrien schlecht ist? Wo leiden die Menschen mehr?
Die Argumente des russischen UNO-Botschafters Witalij Tschurkin sind schwach und nicht mehrheitsfähig. Auf einer Pressekonferenz ging Tschurkin am Mittwoch in die Offensive. Er forderte die rasche Ersetzung des am 13. Mai zurückgetretenen Syrien-Vermittlers der UNO und der Arabischen Liga, Lakhdar Brahimi. Es sei „unakzeptabel“, dass die Genfer Syrienkonferenz nach bloss zwei Runden als gescheitert abgehakt wird, sagte Tschurkin. Der Nachfolger Brahimis soll nur mehr im Namen der UNO auftreten, weil die Arabische Liga uneinig ist und Syrien ausgeschlossen hat. Russland führt diesen Monat den Vorsitz des Sicherheitsrats und kann daher ein wenig an den Rädchen der grossen Maschine drehen.