Auf die Entscheidung des 17-köpfigen Richterkollegiums am Internationalen Gerichtshof in Den Haag im Fall Südafrika gegen Israel folgt nun die politische Aufarbeitung und Interpretation. Sowohl diejenigen, die sich als Anwälte der palästinensischen Sache verstehen, als auch diejenigen, die Israels Krieg in Gaza verteidigen, sehen sich durch die Entscheidung zum Eilantrag Südafrikas in Sachen «Anwendung der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Verbrechens des Völkermordes im Gazastreifen» in ihrer Position bestätigt.
In der Entscheidung über den Eilantrag wurde jedoch nicht über die Hauptsache, d. h. den Vorwurf des Völkermordes, entschieden. Vielmehr ging es um die Frage, ob ein Anfangsverdacht für die Verhandlung der Hauptsache besteht und welche Massnahmen zu ergreifen sind, um zu verhindern, dass es zu einem Völkermord kommt.
Prüfung des Genozid-Vorwurfs zugelassen, aber noch kein Entscheid
Das Gremium liess daher die Prüfung des Völkermordvorwurfs zu, forderte eine umfassende Beweissicherung, stellte das humanitäre Desaster in Gaza fest, verlangte konkrete Massnahmen zum Schutz der Bevölkerung und zur Sicherstellung ihrer Versorgung im Kriegsgeschehen und verlangte einen Bericht über die Umsetzung dieser Anordnung. Die Anordnungen zum Verbot der Anstiftung zum Völkermord und zur Sicherstellung der humanitären Hilfe wurden auch vom israelischen Richter Aharon Barak, der ad hoc in das Gremium berufen worden war, gebilligt. Lediglich die Richterin Julia Sebutinde aus Uganda lehnte alle Anordnungen ab.
Das Gericht beliess es aber nicht bei diesen Anordnungen. Zugleich stellte es fest: «Er (der IGH) ist zutiefst besorgt über das Schicksal der Geiseln, die während des Angriffs in Israel am 7. Oktober entführt wurden und seitdem von der Hamas und anderen bewaffneten Gruppen festgehalten werden, und fordert ihre sofortige und bedingungslose Freilassung.» Darüber hinaus mahnt es die kriegführenden Organisationen in Gaza, also die Hamas, den Islamischen Dschihad und die Volkswiderstandskomitees, die Rahmenbedingungen des Völkerrechts strikt einzuhalten.
Präventiver Charakter der Richter-Entscheidung
Der Beschluss hat damit in erster Linie präventiven Charakter. Er soll verhindern helfen, dass der Tatbestand des Völkermordes verwirklicht wird. Er will allein dem Recht zum Durchbruch verhelfen. Hier zeigt sich eine wesentliche Grundaufgabe des Rechts: den Menschen und seine Würde durch verbindliche Regeln zu schützen. Dies ist im Falle Gazas von besonderer Bedeutung, wo das Hamas-Regime in den vergangenen 17 Jahren statt Rechtsstaatlichkeit totalitäre Willkür herrschen liess. Dies hat dazu geführt, dass die Bevölkerung im Kriegsfall – und in der Vergangenheit gab es mindestens sechs kriegsähnliche Auseinandersetzungen mit Israel – der Gewalt schutzlos ausgeliefert ist und keine Möglichkeit hat, sich gegen die ihr von der Hamas zugefügten Leiden rechtlich zur Wehr zu setzen.
Die Entscheidung des IGH enthält sich daher auch deshalb einer politischen Bewertung und behandelt den Fall allein auf der Grundlage der Beweiserhebung und verbindlicher Rechtsnormen, weil sie der Bevölkerung in Gaza ein Mindestmass an Rechtsschutz zusichert, wenn auch nicht garantieren kann. Es sichert den Palästinensern ihre rechtlich garantierte Würde, fordert humanitären Schutz und schränkt nicht das Recht Israels ein, sich mit militärischen Mitteln gegen die Bedrohung der eigenen Bevölkerung zu wehren.
Verbindliche Anordnung, aber keine Durchsetzungsbefugnis
Der Anordnungskatalog des IGH ist zwar verbindlich, verfügt aber über keine eigene Durchsetzungsbefugnis. Diese bleibt den betroffenen Staaten selbst überlassen. Vom Staat Israel wird daher erwartet, dass er sich die Anordnungen zu eigen macht. Das Rechtsstaatsprinzip erlaubt es theoretisch sogar, die Einhaltung der Anordnungen in Israel selbst einzuklagen. Diese Möglichkeit ist der palästinensischen Bevölkerung bisher verwehrt. Die Hamas hat sie faktisch in einem Zustand der Rechtlosigkeit belassen, der sich jetzt im Krieg dramatisch auswirkt. Der Bevölkerung fehlen die Mittel, sich gegen die als «genozidal» motiviert zu wertenden Praktiken einzelner Einheiten und Kommandanten der IDF zu wehren.
Solange die israelische Seite ihre Kriegsführung nicht durch die Schaffung einer vorläufigen Rechtsverfassung begleitet, die sich die Vorgaben des IGH zu eigen macht, wird es für die Bevölkerung in Gaza keine Sicherheit vor möglichen genozidalen Handlungen einzelner israelischer Militäreinheiten geben.
Keine Legitimität für das Handeln von Hamas
Die Entscheidung des IGH bietet die Chance für einen Neuanfang. Dabei spielt nicht nur der Präventionsgedanke eine Rolle, sondern vor allem die Legitimität, mit der der Krieg geführt wird. Das Gericht stellt die Legitimität Israels, sich gegen die Verbrechen der Hamas und des Islamischen Dschihad zu verteidigen, nicht in Frage. Diese Legitimität droht jedoch zu schwinden, wenn sich die Hinweise auf genozidale Praktiken verdichten. Umgekehrt gilt für die Hamas, dass ihre faktische genozidale Praxis ihr jeden Anschein von Legitimität genommen hat. Insofern handelt die Hamas auch nicht nach der Logik eines Rechtsstaates, sondern als totalitäre Organisation.
Die Praxis der israelischen Kriegsführung müsste sich im Gefolge des IGH-Urteils deutlich ändern und stärker auf das Grundanliegen des Krieges beziehen, nämlich die Geiseln zu befreien, die Urheber des Terrors vom 7./8. Oktober zur Rechenschaft zu ziehen, die militärischen und politischen Strukturen der Hamas zu zerschlagen und eine Sicherheitslage zu schaffen, die eine Wiederholung des Terrors verhindert.
Die Legitimität der palästinensischen Bevölkerung
Hier nun eröffnet sich eine zweite Chance: Die Entscheidung rückt die Bevölkerung in Gaza und damit implizit auch die palästinensische Bevölkerung in der Westbank stärker in den Vordergrund und bestätigt ihre Legitimität und Würde.
Bisher ging man davon aus, dass die aussenpolitischen Erwartungen an einen Frieden oder Waffenstillstand einen Prozess in Gang setzen, der in Gaza zu Frieden oder zumindest zu einem Waffenstillstand führen könnte. Friedenserwartungen werden fast immer von aussen an Gaza bzw. die Westbank herangetragen, weil es dem externen Interesse entspricht, dass Frieden herrscht. Dabei wird der umgekehrte Zusammenhang übersehen: Welche internen Sichtweisen auf die Zukunft von Gaza und der Westbank gibt es? Wofür steht Gaza eigentlich, was hat Gaza zu bieten und warum hat gerade Gaza das Potenzial für eine Strategie, an deren Ende nicht nur Frieden, sondern eine neue Vision für die gesamte Region steht?
Eine neue Vision für Gaza
Das Bild von Gaza als Hort ultranationalistischer Gruppen und religiöser Militanz entspricht nicht der sozialen Realität vor Ort. Gaza, das sind 2,2 Millionen Menschen, die sich ihre Lebensräume auf 360 Quadratkilometern teilen, einer Fläche, die nicht einmal der der beiden Appenzell entspricht.
Hamas, das ist das alte Gaza, das jetzt untergegangen ist, das Gaza, das seit fast 20 Jahren unter dem Kreislauf von Versagen und Gewalt leidet. Mit ihren Angriffen auf Israel, die 2007 begannen, provozierten Hamas und Islamischer Dschihad routinemässig Gegenangriffe der IDF, die schwere Schäden in Landwirtschaft, Industrie, Versorgung und Infrastruktur verursachten, was wiederum zu wirtschaftlicher Stagnation und eingeschränkten Lebensplänen führte, was dann die soziale Verwundbarkeit erhöhte, was zum Verlust des sozialen Zusammenhalts führte, zur Frustration der Jugend und zum Verlust der Möglichkeit, gegenzusteuern, wofür das Feindbild Israel verantwortlich gemacht wurde, was wiederum neue Angriffe auf Israel rechtfertigte.
So absurd es klingt: Der Krieg bietet die Chance, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Dies aber bedingt, dass neben den militärischen, auf die ursprünglichen Kriegsziele begrenzten Handlungen, eine politische Ebene gestaltet wird, auf der sich das Binnenpotential der palästinensischen Gesellschaft entfalten kann. Immerhin: Palästina und gerade auch Gaza ist die Heimat einer im regionalen Vergleich sehr gut ausgebildeten Generation, hat eine junge, produktive und kreative Bevölkerung, die für neue Lebenspläne und Lebensideen offen ist, die danach dürstet, die Schemen der alten Gesellschaft mit ihren Familien- und Verwandtschaftsordnungen hinter sich zu lassen, sofern sie aus der klaustrophobischen Enge von Gaza ausbrechen und in einen dynamischen Austausch mit ihren Peergenerationen im Ausland treten kann. Wie viele Ökonomen festgestellt haben, bietet Gaza zudem eine Vielzahl strategischer Vorteile und könnte tatsächlich, wie es sich vor allem saudi-arabische Experten erhoffen, ein mittelmeerisches Pendant zu den Handels- und Gewerbegebieten am Golf werden.
Perspektiven für eine Aushebelung alter ideologischer Muster
Diese Vision aber setzt voraus, dass es als politisches Ziel aus dem Potential der Gesellschaft heraus entwickelt wird und dass sich die Bevölkerung mit diesem Ziel identifizieren kann. Dass dieses Ziel mit einer neugestalteten Zweistaatenlösung einhergeht, ist offensichtlich. Der anstehende Wiederaufbau Gazas müsste so angegangen werden, dass in ihm schon erste kleine Schritte in Richtung auf dieses Ziel hin erkennbar werden. Dies würde nicht nur den Kreislauf der Gewalt durchbrechen, sondern die alten ideologischen Muster aushebeln, mit denen bislang Hamas und Islamischer Dschihad ihre Willkürordnung durchgesetzt haben.
Ein wesentlicher Bestandteil dieses sozialen, politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbaus ist die Wiedererlangung der Souveränität der Bevölkerung in Gaza. Unerwartet und ungewollt ist die Entscheidung des IGH zu einem entscheidenden Moment geworden, in dem sich das Fenster für einen Lösungsprozess öffnet.