Die Stadt an der türkischen Grenze war im vergangenen Jahr ein Hauptkampfplatz zwischen IS und den Kurden gewesen. Die Luftstreitkräfte der Aliierten hatten die Kurden energisch unterstützt. Ende Januar dieses Jahres war IS gezwungen Kobane zu räumen. Seither hatten die kurdischen Truppen
der "Volksverteidigungskräfte", YPG, das Gebiet östlich, westlich und
südlich der Stadt unter ihre Herrschaft gebracht.
Entscheidende Luftschläge bei der Vertreibung von IS
Die Luftschläge der Amerikaner und ihrer Koalition hatten dabei entscheidende Hilfe geleistet. Im Westen hatten sie die IS Kämpfer rund 30 Km zurückgedrängt, im Osten hatten sie die nächste Grenzstadt zur Türkei, Tell Abyad, erobert und dadurch zwei der drei kurdischen Enklaven an der türkischen Grenze miteinander verbunden. Die kurdischen Kämpfer hatten dann südlich von Tell Abyad eine von IS besetzte ehemalige Basis der syrischen Armee (Basis der 93. Brigade genannt) erobert und waren in die nahe gelegene Stadt Ain Isa eingedrungen.
Diese liegt halbwegs zwischen Tell Abyad und Raqqa, nur etwa 60 Kilometer entfernt von der Hauptstadt des "Kalifates". Es gab bereits Meldungen, nach denen die IS Kämpfer sich auf die Verteidigung ihrer Hauptstadt vorbereiteten.
Selbstmordbomben als Wegbereiter
Doch IS hat offenbar auch einen Versuch unternommen, den Druck der
syrischen Kurden auf Raqqa dadurch zu vermindern oder aufzuheben, dass es erneut in die durch die vorausgegangenen Kämpfe fast völlig
zerstörte Stadt Kobane eindrang. In typischer Art und Weise begann der Angriff durch eine Selbstmordbombe in einem Lastauto, die in der Nähe des Grenzübergangs eine Grossexplosion hervorrief und mehrere
Todesopfer erforderte. Es gibt Berichte aus der Stadt, die behaupten,
an anderen Stellen seien auch Bombenanschläge erfolgt. Jedenfalls kam es zu Kämpfen im Zentrum von Kobane, welche die ganze Nacht auf den Donnerstag hindurch andauerten. Spitalquellen sprechen von mindestens 17 Toten und 70 Verwundeten.
Kamen sie über türkisches Territorium?
Woher die IS Kämpfer kamen, ist ungewiss. Möglicherweise gelang es
ihnen. aus dem Westen über die 30 Kilometer hinweg, die sich in
kurdischen Händen befinden, unbemerkt bis nach Kobane vorzustossen. Es gibt aber auch Spekulationen, nach denen sie mit türkischer Hilfe auf der türkischen Seite der Grenze bis vor Kobane gelangt sein könnten.
Dies wurde von der Türkei dementiert. Jedoch viele Kurden werden
solchen Dementis wenig Glauben schenken. Während der fünf Monate lang dauernden blutigen Schlacht um Kobane hat die türkische Regierung sehr deutlich gezeigt, dass sie den syrischen Kurden auf der anderen Seite der Grenze keineswegs helfen wollte. Damals hat Ankara nur nach heftigen und blutig niedergeschlagenen Demonstrationen der türkischen Kurden und nach langem Zögern schlussendlich zugelassen, dass einige irakische Kurden den syrischen in Kobane zu Hilfe eilen durften, indem sie türkisches Territorium durchquerten.
Nach der kürzlich erfolgten Einnahme der zweiten Grenzstadt, Tell Abyad, durch die syrischen Kurden hat Ankara sehr deutlich ausgesprochen, dass es die Errichtung einer kurdischen Zone südlich der türkischen Grenze "ablehne". Regierungsnahe Zeitungskommentatoren gingen soweit zu schreiben, die Siege der Kurden an der türkischen Grenze beruhten auf einer
kurdisch-amerikanische Verschwörung gegen die Türkei. Diese ziele
darauf ab, die Türkei durch eine feindliche Zone an ihrer südlichen
Grenze "zu isolieren".
Hassake als ein weiteres Kampfgebiet
Gleichzeitig mit dem Vorstoss nach Kobane löste IS auch eine Offensive in Hassake aus. Dies ist die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, östlich von Kobane, jedoch nicht an der Grenze gelegen sondern im Inneren der Provinz, welche die Kurden Cizre und die Syrer Hassake nennen.
In Hassake stehen noch syrische Truppen. Die Bevölkerung der Stadt
besteht zu etwa 40 Prozent aus Kurden. Die Stadt hat zur Zeit beinahe
400 000 Einwohner, weil viele aus ihren Wohnstätten vertriebene Syrer
in ihr Zuflucht gesucht hatten. Sie ist seit geraumer Zeit umkämpft
zwischen Kurden, syrischen Regierungstruppen und IS Angreifern.
Die jüngste Offensive soll durch Schläferzellen von IS innerhalb der Stadt ausgelöst worden sein. Wahrscheinlich dient auch diese zweite IS
Offensive dem Zweck, Raqqa zu entlasten und den auf die Hauptstadt von IS gerichteten Vormarsch der Kurden aufzuhalten.
"Festhalten und Ausdehnen" als Grundstrategie
Die Reaktionen von IS auf die Rückschläge, die "das Kalifat" durch die
Kurden erlitt, zeigen deutlich, dass die Lenker von IS eisern an ihrer
Grundstrategie festhalten, die sie selbst als "Festhalten und
Ausdehnen" umschreiben. "Festhalten" bezieht sich auf die bereits
eroberten Gebiete und "Ausdehnen" auf die Notwendigkeit, weitere
Regionen dazu zu erobern.
Wenn es dazu käme, dass IS nicht mehr in der
Lage wäre, diesen beiden Vorsätzen gleichzeitig nachzukommen, würde dies einen empfindlichen Verlust für das Prestige "des Kalifates"
darstellen. Seine Propaganda verlöre rasch an Glaubwürdigkeit. Deshalb sieht sich IS veranlasst, alles daran zu setzen, was er nur irgend kann, um erlittene Rückschläge möglichst rasch wieder auszuwetzen.