Die syrische Regierungsarmee hat den Wettlauf nach Deir az-Zor gewonnen. Die russische Luftwaffe half ihr dabei. Syrische Truppen konnten in den letzten Tagen rasch in Richtung Deir az-Zor vorstossen und standen am Montag nur etwa drei Kilometer von der Hauptstadt der Provinz, die auch Deir az-Zor heisst, entfernt. Am Dienstag meldete die syrische Armee, sie habe den Militärflughafen vor der Stadt und die bisher dort eingeschlossene Luftwaffenbesatzung erreicht.
Lebensmittel aus der Luft
Die Aussenquartiere der Stadt waren schon 2013 den Rebellen gegen Asad in die Hände gefallen. Im folgenden Jahr hatte der IS, der sich damals noch ISIS (Islamischer Staat in Irak und Syrien) nannte, die anderen Rebellengruppen vertrieben oder sich eingegliedert und beherrschte alleine das Umfeld der Hauptstadt sowie immer wachsende Teile ihrer Provinz. Die Provinz ist wichtig, weil sich in ihr zahlreiche Erdöl- und Erdgasfelder befinden. Im Inneren der Hauptstadt hielt sich die Regierung mit ihren Sicherheitstruppen, und an das Stadtgebiet grenzt ein Armeeflughafen an, der ebenfalls im Besitz der Regierungsarmee verblieb.
Im Laufe der folgenden Jahre änderte sich diese Machtverteilung nur unwesentlich. Die Armee konnte ihren Flughafen halten. Er wurde aus der Luft versorgt. In der Stadt machte der IS einige Fortschritte, doch ihre grössten Teile blieben ebenfalls in Regierungshänden. Die Bevölkerung wurde über lange Jahre knapp am Leben erhalten mit Lebensmitteln, die aus grosser Höhe abgeworfen wurden. Die Stadt hatte ursprünglich gegen 300’000 Einwohner. Von ihnen sollen noch etwa 93’000 in Regierungshänden, aber eingekreist vom IS, übrig geblieben sein, zusammen mit rund 7’000 Soldaten der Luftwaffenbasis. Der Rest konnte fliehen oder kam ums Leben. Diese Bewohner der belagerten Stadt zogen auf die Strassen und begannen zu feiern, als sie vernahmen, dass die Armee im Begriff sei, die Belagerung zu sprengen. Als erstes Ziel der Armee gilt der Flughafen und die Kontaktnahme mit der dortigen Garnison.
Den Rebellen zuvorgekommen
Kräfte des syrischen Widerstandes, die im Süden Syriens standen und für Nachschub und Hilfe von dem in Jordanien gelegenen amerikanisch-jordanischen Operationsraum abhängen, hatten im August einen schwachen Versuch unternommen, ihrerseits durch die südliche Wüste nach der Provinz Deir az-Zor vorzustossen. Doch sie waren dabei offenbar nie sehr weit vorangekommen. Die Deeskalation, welche die Russen vorschlugen, und der die Amerikaner für Südsyrien zustimmten, bewirkte, dass dieser Vorstoss ohne echte Erfolgschancen blieb.
Auch die Kommandanten der SDF-Kräfte, die aus Kurden und Arabern zusammengesetzt sind und im Kampf um Raqqa stehen, hatten erklärt, „demnächst“ gedächten sie, über Raqqa hinaus in Richtung Deir az-Zor vorzustossen. Doch das „demnächst“ bedeutete wohl, dass zuerst Raqqa fallen müsse. Dies steht noch bevor. Die SDF haben in Raqqa weitere Fortschritte erzielt, doch die dortigen Kämpfe sind noch nicht beendet.
Ein letzter Herrschaftsbereich des „Kalifen“
Der Wettlauf um die Provinz Deir az-Zor scheint damit entschieden. Die syrische Armee hat ihn gewonnen. Die russische Propaganda spricht davon, dass ihre Luftwaffe ihren syrischen Verbündeten den Weg geöffnet habe, indem sie die Panzer der am besten ausgerüsteten IS-Formation am vergangenen Wochenende in der Wüste nordwestlich von Deir az-Zor entscheidend vermindert habe.
Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass die IS-Führung, wahrscheinlich einschliesslich des „Kalifen“ Abu Bakr al-Bagdadi, sich weiter am Euphrat abwärts in das Grenzgebiet zwischen Syrien und den Irak abgesetzt hat. Dort gibt es noch zwei Grenzorte – auf der syrischen Seite Abu Kemal und jenseits der Grenze das irakische Qaim – die sich unter der Herrschaft des IS befinden. Weiter stromabwärts reicht die Macht des IS im Irak bis zum Flecken Ana. Aus dem Euphrattal lässt sich der Übergang in die Weiten der Wüste leicht vollziehen, die sich über Hunderte von Kilometern zwischen Syrien und dem Irak erstreckt. In dieser Wüste kann der IS nach wie vor auf einige Nomadenstämme zählen, die zu ihm halten, muss aber auch mit anderen rechnen, die er sich zu erbitterten Feinden gemacht hat. Jedenfalls aber zählt dort die Stammespolitik viel mehr als die Politik der beiden theoretisch die Wüste beherrschenden Staaten. Die Wüste wird aller Wahrscheinlichkeit nach zum letzten Zufluchtsgebiet des IS werden.
Idlib als Burg der HTS
Innerhalb Syriens gibt es immer noch einzelne kleine Flecken, die von den Widerstandsgruppen beherrscht werden, welche nicht zum IS oder zum HTS (früher Nusra Front) gehören. Ausserdem bleibt die Provinz Idlib, wo die HTS-Miliz alles ihr Mögliche unternimmmt, um sich zum Alleinherrscher zu machen. Sie ist in der vergangenen Woche mit der früher gewählten Gemeindeversammlung der Stadt Idlib zusammengestossen, weil sie diese zur Abdankung zwingen wollte zu Gunsten einer zivilen Führung, die dem HTS angehören soll.
Die Gemeindeversammlung hat sich geweigert, dieser Forderung Folge zu leisten. Sie wies darauf hin, dass sie von der Bevölkerung gewählt worden sei. Doch der HTS hielt sich nicht daran und ernannte seine eigene Zivilbehörde. Das gleiche versuchte er auch in zahlreichen kleineren Ortschaften, die eine gewählte Führung besassen. Da der HTS über die Waffen verfügt, wird er sich überall durchsetzen können, sogar wenn es anfänglichen Widerstand gibt.
Befreite Gebiete an wen?
Am Ende jedoch, wenn alle anderen näher an Damaskus oder an strategischen Durchgangsstrassen gelegenen Widerstandsflecken liquidiert worden sind, wird sich Damaskus Idlib zuwenden. Dabei kann es auf russische und iranische Hilfe zählen, und die Amerikaner werden entweder zusehen oder mithelfen, den HTS zu bekämpfen, welcher als Abkömmling von al-Qaeda auch von ihnen als Terroristengruppe eingestuft wird, die unbedingt zu bekämpfen sei.
Schon gegenwärtig stellt sich für Washington die Frage, was mit den vom IS gewonnenen Gebieten und Ortschaften geschehen soll. Sobald Raqqa endgültig fällt, müssen sie entscheiden, wem die Stadt zukünftig übergeben werden soll: Asad und den Russen mit deren Verbündeten, Hizbullah und Iran? Oder irgendeiner sich gegen Asad auflehnenden syrischen Gruppe? – Eine solche kann schwerlich auf die Dauer überleben ohne ein amerikanisches Engagement auf ihrer Seite, das weit darüber hinausginge, was die Amerikaner bis heute als ihr Ziel in Syrien festgelegt haben, nämlich die Liquidation des IS.
Die offene Zukunft der syrischen Kurden
Eine ähnliche Entscheidung muss auch in Bezug auf die syrischen Kurden getroffen werden, die bisher als die Verbündeten der Amerikaner gegen den IS kämpften. Wird Washington sie fallen lassen zu Gunsten Asads und der Russen? – Oder wäre es bereit, ihnen weiter zu helfen, wenn es darum gehen wird, ihren Wunsch nach Autonomie gegenüber Damaskus durchzusetzen? Ein Vorentscheid ist in Bezug auf Deir az-Zor offenbar schon gefallen: Die Provinz wird unter Asad zurückkehren. Doch was nach der „Befreiung“ mit Raqqa geschieht, was mit den gegenwärtig „befreiten“ Kurdengebieten Nordsyriens, und was mit dem verbliebenen Hauptrebellengebiet von Idlib, bleibt unklar.