Der genaue Hergang ist wie meistens in solchen Fällen unklar. Laut offiziellen Informationen war in der Strafanstalt San Miguel an der Peripherie von Santiago de Chile nach übermässigem Alkoholkonsum ein Streit unter den 18 bis 24 Jahre alten Insassen ausgebrochen. Einer der Häftlinge soll sich mit einem selbst gebastelten Flammenwerfer gegen seine Angreifer gewehrt und dabei das Gebäude in Brand gesteckt haben. Der Trakt verwandelte sich in Minutenschnelle in eine Flammenhölle. Die 66 Gefangenen, die in diesem Flügel der Anstalt eingeschlossen waren, verbrannten, 15 weitere in einem Sektor nebenan erstickten.
Untersuchungshäftlinge und verurteilte Kriminelle in der gleichen Zelle
Staatschef Sebastián Piñera, der sich seinen Landsleuten gern als Mann der schnellen Entschlüsse präsentiert, kündigte wenige Stunden nach dem Unglück umfassende Reformen im Strafvollzug an. Bisher hatte sich seine Regierung um diesen Bereich wenig gekümmert – wie die meisten Exekutiven in Lateinamerika.
Auch in Chile, das in mancher Hinsicht als Lateinamerikas Musterknabe gilt, sind die Gefängnisse stark überlegt. Die Anstalt San Miguel war für 900 Häftlinge gedacht, beherbergte jedoch 1900. In anderen Ländern der Region sieht es teilweise noch schlimmer aus. So werden etwa in El Salvador 24 000 Gefangene in Haftanstalten mit offiziell 8000 Plätzen zusammen gepfercht. Die sanitären Anlagen sind in der Regel in einem erbärmlichen Zustand, Krankheiten breiten sich dementsprechend schnell aus.
Mancherorts wird die Situation noch dadurch verschärft, dass Untersuchungshäftlinge in den gleichen Zellen sitzen wie verurteilte Kriminelle. Ein auch nur einigermassen menschenwürdiger Strafvollzug ist bei solchen Bedingungen unmöglich, von Resozialisierung kann erst recht nicht die Rede sein.
Die Macht der Bosse
Es mangelt nicht bloss an Raum, sondern auch an Personal. Als der Brand in San Miguel ausbrach, waren nur fünf Aufseher zugegen, um die 1900 Inhaftierten zu beaufsichtigen. Menschenrechtsorganisationen kritisieren immer wieder, dass die Sicherheitsbeamten zudem ungenügend ausgebildet und schlecht bezahlt sind. Die niedrigen Löhne erleichtern es Verbrechersyndikaten, Angestellte zu bestechen und ihre Macht im Knast auszubauen.
Organisationen wie das Primeiro Comando da Capital (PCC, Erstes Haupstadtkommando) in Brasilien, das schätzungsweise 5000 Mitglieder zählt, können in manchen Gefängnissen schalten und walten, wie sie wollen. Die Bosse kontrollieren den Betrieb weitgehend und organisieren von ihren Zellen aus mit Handys oder über Mittelsmänner weitere Verbrechen. Sie schlagen auch Kapital aus der Armut der meisten Eingesperrten. Da diese sich keinen Anwalt leisten können und auch vom Staat keine Hilfe zu erwarten haben, bieten ihnen die Verbrechersyndikate Unterstützung an und bringen sie so auf ihre Seite.
Die unselige Kombination von unerträglichen Haftbedingungen und organisierter Kriminalität führt immer wieder zu Gewaltausbrüchen. Weltweit Schlagzeilen lieferte in den neunziger Jahren ein Gefangenenaufstand im berüchtigten Kerker Carandiru in der brasilianischen Metropole São Paulo. Die Polizei stürmte damals den Pavillon 9 und massakrierte 111 Häftlinge.
Der brasilianische Arzt Drauzio Varella, der zwischen 1989 und 2001 als Freiwilliger Gefangene in Carandiru betreute, beschreibt in seinem Buch „Estação Carandiru“ (U-Bahn-Station Carandiru) auf eindrückliche Weise die schrecklichen Zustände in der damals grössten Haftanstalt Südamerikas, die zeitweise mehr als 8000 Insassen hatte, anstatt wie vorgesehen höchstens 3250. Sein Werk diente als Vorlage für den Film „Carandiru“ von Hector Babenco, der auch in europäischen Kinos lief.
Nach jahrelanger internationaler Kritik wurde das Gefängnis im September 2002 geschlossen – sinnigerweise mit einem „Tag der offenen Tür“. Einer der letzten Insassen nahm auf besondere Art Abschied von der gefürchteten Casa de Detenção. „Hier wird es nie mehr Leid, Schmerz und Erniedrigung geben“, sprühte er mit schwarzer Farbe an die Zellenwand. „Carandiru ruhe in Frieden.“
Die Ohnmacht des Staates
Nach jeder Gefängnisrevolte geloben die zuständigen Behörden wie jetzt der chilenische Präsident, endlich die überfälligen Verbesserungen in die Wege zu leiten. Konkret passiert dann allerdings in der Regel nicht viel. Auch deshalb nicht, weil in der Frage, wie der Strafvollzug reformiert werden müsste, die Meinungen weit auseinander gehen. Die einen setzen hauptsächlich auf Repression. Sie glauben, die Krise mit dem Bau neuer Gefängnisse überwinden zu können. Andere plädieren für alternative Massnahmen wie etwa gemeinnützige Arbeit oder elektronische Fesseln für Verurteilte, die sich keines Gewaltverbrechens schuldig gemacht haben.
Nicht wenige Kritiker des heutigen Systems bezweifeln, dass sich die Situation grundlegend verändern wird, solange das Problem nicht an den Wurzeln angepackt wird, Sie verweisen auf die gigantischen Einkommensunterschiede und die nach wie vor weit verbreitete Armut in der Region und fordern energischere Massnahmen der Regierungen auf diesem Gebiet. Hier gibt es tatsächlich noch viel zu tun. Nur: Dieses Krebsübel der lateinamerikanischen Gesellschaft lässt sich nicht von heute auf morgen aus der Welt schaffen.