Moderne Biologie scheut das Zweckdenken wie der Teufel das Weihwasser. Seit Darwin geht die Wissenschaft davon aus, dass in der Natur alles nach dem Mechanismus einer «Manufaktur der Arten» ablaufe. Sie habe die alte Naturgeschichte abgelöst.
Aber das Zweckdenken lässt sich von der Wissenschaft nicht überzeugen, alles, was geschehe, sei bloss ein «verdammtes Ding nach dem andern», um hier die Ausdrucksweise des englischen Historikers Arnold Toybee zu gebrauchen. Deshalb verzichten wir, unbeeindruckt durch den lauernden Vorwurf der Rückständigkeit, im Alltag nicht auf eine Zweck-Metaphorik. Wir, die fabulierenden Tiere, gebrauchen sie auch weiterhin munter im Umgang mit Tieren, unterstellen ihnen ein absichtsvolles Handeln, machen sie zu Dramatis Personae in Geschichten, missachten die Warnungen der Zoologen vor «Vermenschlichung».
Evolution: ein blinder Algorithmus
Tatsächlich haben die Naturwissenschaften das Zweckdenken nicht überwunden. Man kann bestenfalls sagen, in der Biologie habe sich ein Paradigma etabliert, das ein bestimmtes explikatives Genre favorisiert. Erklärungen nach Zwecken und Absichten haben darin nur dann Kredit, wenn sie idealerweise schliesslich in kausaler Währung zurückgezahlt werden können.
Darwins erkenntnistheoretischer Coup bestand darin, das Design in der Natur als Schein zu entlarven, als – wie dies der Neodarwinist Daniel Dennett nennt – einen in der Natur wirkenden blinden, geistlosen Algorithmus. Ein Beispiel: Wölfe entwickelten sich zu schnellen Rennern, damit sie geschickter jagen können. Dieses «damit» aber befriedigt den Biologen nicht. Er möchte es durch ein «deshalb» ersetzen. Also greift er zu einer Art Kausalerzählung im Konditional: Würden Wölfe schneller rennen, könnten sie mehr Beute machen. Zufälligerweise war die Umwelt der Urwölfe so, dass sich mehr Rudel mit flinken Mitgliedern entwickelten, deshalb sind Wölfe schnelle Renner. Schluss mit «Zweck» oder «Entwurf» in der Natur.
«Fabula rasa»
Die Evolutionstheorie hat also das Geschichtenerzählen nicht aufgegeben. Sie schuf vielmehr eine «Fabula rasa»: eine von den alten Fabeln «gereinigte» neue Tafel für Naturgeschichten. Deren Grundstruktur lautet «Wie hätte es sein können, dass die Tierart X diese Merkmale und Verhaltensformen erworben hat?» – Geschichten mit mehr oder weniger Plausibilitätsgehalt, die von zwei Axiomen ausgehen. Erstens: Alle Lebewesen sind miteinander durch die Evolution verbunden. Zweitens: Die meisten ihrer aktuellen Merkmale haben sie durch den Prozess der natürlichen Auslese erworben, als adaptive Vorteile.
Erklärende Fabeln dieser Art haben zum Markt eines neuen populärwissenschaftlichen Genres geführt, mit dem Branchenleader Richard Dawkins. Er erzählt zum Beispiel ein herrenwitziges Müsterchen über das Verschwinden des Penisknochens beim Menschen. Viele Säuger besitzen diesen Knochen. Warum dann das menschliche Männchen nicht, wo sich doch eine verknöcherte Dauererektion als Vorteil in der Balz herausstellen müsste? Eben nicht, meint Dawkins, denn wenn die Weibchen ihre «diagnostischen Fähigkeiten durch natürliche Auslese verfeinert» haben, werden sie auch Hinweise auf die gesunde Virilität ihres Partners «aus dem Tonus und der Haltung seines Penis» ablesen können. Und deshalb erwiese sich der Verlust des Penisknochens als Vorteil, weil nur «wirklich gesunde und starke Männer einen wirklich steifen Penis präsentieren.»
Kiplings Just-So-Stories
Wie kommt das Kamel zu seinem Höcker? Der vor-evolutionäre Antworttypus findet sich in Tierfabeln und -mythen, quer durch alle Zeiten und Kulturen. Rudyard Kipling, Autor des berühmten «Dschungelbuchs», schrieb auch ein Kinderbuch mit dem Titel «Just So Stories», in dem er solchen Fragen nachstellt. Just-So-Stories, erklärte er einmal, würden seine Tochter in den Schlaf lullen, weil sie «einfach so», ohne neue Variationen, erzählt würden. Seither ist «Just So Stories» fast sprichwörtlich geworden für verführerisch simple Mythen. Sind auch evolutionäre Geschichten Just-So-Stories? Kann man durch natürliche Auslese alles erzählen-erklären?
Ja und nein. Ja, unserer Imagination und Fabulierlust sind kaum Grenzen gesetzt, sich immer neue Was-wäre-wenn-Szenarien auszumalen. Nein, denn diese Szenarien haben sich durchaus vor dem Tribunal der Empirie zu bewähren. Das evolutionäre Auslese-Narrativ ist nur ein Rahmen, innerhalb dessen Beobachtungen, Fakten und Hypothesen ihren – eben evolutionären – Sinn erhalten. Die wirklich harte wissenschaftliche Arbeit beginnt, wenn Belegmaterial beigebracht werden muss. Das ist, gerade bei unseren Vorfahren, oft schwierig, wenn nicht unmöglich. Wie wissen wir verlässlich, wie sie gelebt und gefühlt haben? Faute de mieux bietet sich das Genre der Just-So-Stories fast zwangsläufig an.
Der neue Anspruch der Evolutionstheorie
Das Just-so-Genre ist alt. Es findet sich schon bei Aristoteles. Für einen atemberaubenden Moment lang spielt er in seinen «Physikvorlesungen» mit dem Gedanken, alle Gebilde der Natur, «die ein zweckbestimmtes Werden hervorgebracht habe», seien vielleicht auch «gerade so» entstanden, wobei sie sich dann nur am Leben hätten erhalten können, «da sie dank dem blinden Zufall einen lebensdienlichen Aufbau besessen hätten.» Der Rest gehe zugrunde.
Aristoteles wies diesen Gedanken allerdings von der Hand. Nicht so die modernen Evolutionsbiologen. Für sie ist die natürliche Auswahl der Schlüssel zu allen Phänomenen der Natur, aber auch der Kultur und des Geistes. Schon die Soziobiologie trat in den 1970er Jahren mit dem Anspruch auf, dass «früher oder später Politologie, Recht, Ökonomie, Psychologie, Psychiatrie und Anthropologie zu Zweigen der Soziobiologie werden würden», wie einer der Pioniere, Robert Trivers, vollmundig verlautete. Heute erklingen solche Töne vor allem aus der Neurobiologie und der evolutionären Psychologie. Alles hat seine Erklärung im Auslese-Narrativ.
Ein Beispiel: der Gottesinstinkt
Ein Lehrbuchbeispiel liefert der Psychologe Jesse Bering mit seinem «Gottesinstinkt». Im Menschen habe sich die Tendenz des Mentalisierens entwickelt, also die Fähigkeit, in anderen Wesen ein Geistesleben anzunehmen, das auch viele ihrer Handlungen erkläre. Im englischsprachigen Raum spricht man von einer «theroy of mind», die sich etwa auch bei Schimpansen beobachten lasse. Eine entwickelte Form der «theory of mind» zeigt sich beim Menschen darin, dass er selbst im aussermenschlichen Bereich einen Geist und eine moralische Instanz annimmt: Gott.
Die Illusion eines Gottes löste für unsere Ahnen ein sehr wichtiges evolutionäres Problem, nämlich jenes des rufschädigenden (und damit Gene gefährdenden) böswilligen Klatsches. Die Furcht vor einem unsichtbaren, über allem stehenden strafenden Wesen hemmte das selbstsüchtige Verhalten der Frühmenschen: ein adaptiver Vorteil. – Das ist eine klassische Just-So-Story. Sie erklärt anhand eines So-könnte-es-gewesen-sein-Szenarios die Entstehung eines bestimmten Verhaltens unter unseren Vorfahren.
Abgesehen davon, dass die emprischen Belege meist dürftig sind, riskiert man notorische Fehlschlüsse, vor allem einen: Man projiziert auf den Menschen des Pleistozäns genau jenes Verhalten aus der Gegenwart, das man gerne naturgeschichtlich bestätigt sehen möchte. Ein klassischer Zirkelschluss. Wer Religion adaptiv erklären will, muss ja zunächst «Religion» definieren, und genau hier spricht die eigene Kultur ein gewichtiges Wort mit, meist in konservativer Absicht.
«Halbstarke» Wissenschaften
Damit sei den Just-so-Stories ihr heuristischer Wert nicht abgesprochen. Natürlich ist das ganze menschliche Nervensystem ein Resultat der Evolution, also auch Psychologie, Bewusstsein, Religiosität. Unsere höheren, kulturellen Verhaltensformen tragen die Signatur des Biologischen. Das rechtfertigt durchaus einen Blick aus evolutionärer Perspektive auf unser Geistesleben.
Nur sollte daraus nicht der Schluss gezogen werden, am Ende sei «alle» Psychologie evolutionäre Psychologie, wie dies einer ihrer Vertreter, David Barash, kühn behauptet. Genau dann, wenn man den Anspruch auf solche Weise überspannt, verkehrt sich die heuristische Nützlichkeit eines Erklärungsmusters in den Imperialismus einer evolutionistischen Metaphysik. Das Gebaren ist symptomatisch für Wissenschaften in der halbstarken Phase.
Hat Darwin das letzte Wort?
Im Grunde war, ist und bleibt der Biologe dreierlei: Theoretiker, Empiriker und Erzähler (Historiker). Aristoteles ist das grosse antike Beispiel. Und es gibt kein hervorragenderes neuzeitliches Beispiel als Darwin selbst, der die Personalunion dieser drei Haltungen zum Lebendigen verkörperte.
Darwin gestand Aristoteles eine «dunkle Ahnung des Prinzips der natürlichen Zuchtwahl» zu. Denn der alte Grieche stellt ausdrücklich die Frage: «Warum solle es denn undenkbar sein, dass die Natur ohne alle Finalität und Rücksicht auf das Bessere arbeite (..), wie beispielsweise Zeus es regnen lasse, nicht um das Getreide wachsen zu lassen, sondern aus reiner Notwendigkeit – denn die aufgestiegene Luft müsse abkühlen und die angekühlte Luft müsse, zu Wasser geworden, herunterfallen; sei es aber dazu gekommen, sei das Wachstum des Getreides bloss eine beiläufige Folge der Umstände.»
Der Mensch als «eine beiläufige Folge der Umstände». Das ist der Schlüssel der Evolutionstheorie. Aber kennt man das Schloss? Könnte es sein, dass wir diesen Gedanken nicht verkraften und deshalb zum kompensierenden Mittel der Erzählung greifen? – Das fabulierende Tier, das sich erzählend jenen Sinn fabriziert, den seine Entstehungsgeschichte nicht hat. Man kann getrost sagen, wir fabrizierten damit Schein, aber es ist ein notwendiger. Und man kann ihn verbessern. Und ohnehin: Wer behauptet denn, dass Darwin das letzte Wort hat?