Das Zürcher Obergericht hat die Urteile gegen den ehemaligen Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz und Mitangeklagte aufgehoben. Der Fall geht zurück auf Feld eins. Die Staatsanwaltschaft hat ihren Job nicht richtig gemacht. Das darf eigentlich nicht sein.
Die Zürcher Justiz ist blamiert. Offenbar im Übereifer, gegen den einstigen Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz eine lückenlose und wasserdichte Anklage erheben zu wollen, hat sich die Staatsanwaltschaft selbst ein Bein gestellt. Das Zürcher Obergericht kippt das auf dieser Anklage basierende Urteil des Bezirksgerichts, das den Hauptangeklagten Vincenz Anfang 2022 wegen gewerbsmässigen Betrugs und ungetreuer Geschäftsführung zu drei Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt hatte. Grund: Die 365 Seiten lange Anklageschrift war zu ausschweifend und unpräzis. Zudem fehlte die französische Übersetzung, die ein Mitangeklagter verlangt hatte. «Grobe Verfahrensmängel» lautet das vernichtende Verdikt der oberen Instanz.
Grosse Wirtschaftskriminalfälle sind immer kompliziert. Die Anklagebehörde soll die Vorgänge möglichst lückenlos aufklären und gerichtsfest beweisen. Gleichwohl muss sie einen Fall in nützlicher Frist zur Anklage bringen und diese für das Gericht in knapper und klarer Form darlegen. Doch die Angeklagten sind üblicherweise höchst gewieft im Verschleiern und haben bei ihren Taten bereits für die Risiken einer juristischen Verfolgung vorgesorgt. Und wenn sie dann doch auffliegen und es zur Untersuchung und Verhandlung kommt, so können sich die Gentlemen problemlos die besten und teuersten Anwälte leisten. Kein Wunder, haben die Ankläger oft schon im voraus entsprechenden Respekt vor den zu erwartenden Verteidigern und wollen diesen um keinen Preis irgendwelche Angriffspunkte liefern. Im vorliegenden Fall hat dies die Staatsanwaltschaft offenbar dazu verleitet, mit der Anklage übers Ziel hinaus zu schliessen.
Eine Entschuldigung für die juristische Pleite ist das allerdings nicht. Die Strafverfolgungsbehörde einer Wirtschaftsmetropole muss in der Lage sein, die gewiss hohen Schwierigkeiten eines solchen Verfahrens zu meistern. Die zu vermutenden Betrügereien des einstigen Raiffeisen-Chefs sind ja vom Typus her nicht etwas noch nie Dagewesenes. Die Ankläger müssen in der Lage sein, einen solchen Fall mit unnachgiebigem Ermittlungsdruck, zielstrebiger Strategie und ohne handwerkliche Mängel durchzuziehen.
Und nun dies: An den von der Staatsanwaltschaft abgelieferten 365 Seiten liess die obere Instanz keinen guten Faden. Zudem müssen sich die Ankläger einen so simplen Lapsus wie eine fehlende Übersetzung der Anklageschrift ankreiden lassen. Das ist nicht weniger als eine eigentliche Disqualifikation.
Das Versagen der Zürcher Staatsanwaltschaft ist katastrophal, weil es das Vertrauen in die Justiz untergräbt. Der Fall Vincenz wird nach Jahren zurückgesetzt auf Feld eins. Am Ende drohen gar Verjährung und Straflosigkeit für einen Überflieger, dessen Chuzpe in der Öffentlichkeit teils ungläubiges Staunen, teils resignierte Ernüchterung hervorrief. So lange es nicht gelingt, das offensichtlich von Allmachtallüren getriebene Verhalten des mutmasslichen Wirtschaftskriminellen Pierin Vincenz hieb- und stichfest zu sanktionieren, wird sich die volkstümliche Skepsis bestätigt sehen: Die Kleinen hängt man, die Grossen lässt man laufen.