Der Erzähler dieser Geschichte ist etwas über vierzig Jahre alt. Er ist Jude und hat Ghetto und Konzentrationslager überlebt. Seine Erzählung schreibt er zwanzig Jahre nach Kriegsende nieder. Wir erfahren seinen Namen nicht und wissen nur, dass er die Geschichte von einem Juden namens Jakob Heym auf der Deportation in einem Viehwagen vernommen hat. Heym kommt im Konzentrationslager um, und der Erzähler berichtet, um dessen Geschichte davor zu bewahren, der Vergessenheit anheimzufallen.
Er achtet auf die Genauigkeit der Darstellung, gestattet sich aber gewisse Freiheiten dort, wo ihm die Fakten nur lückenhaft bekannt sind. „Ich sage mir“, schreibt er, „so und so muss es ungefähr gewesen sein, oder ich sage mir, es wäre am besten, wenn es so und so gewesen wäre, und dann erzähle ich und tue so, als ob es dazugehört. Und es gehört auch dazu, es ist nicht meine Schuld, dass die Zeugen, die es bestätigen könnten, nicht mehr aufzutreiben sind.“
Niemand wusste am Morgen, ob er am Abend noch leben würde
Der Roman „Jakob der Lügner“ stammt von Jurek Becker und ist sein wichtigstes Werk. Der Verfasser wurde 1937 als Kind jüdischer Eltern im polnischen Lodz geboren. Im März 1940 wurde seine Familie ins Ghetto überführt, in dem zeitweise über 160’000 Juden auf engstem Raum und unter prekärsten Verhältnissen zusammenlebten und als Arbeitssklaven in Werkstätten und Fabriken eingesetzt wurden. Überall lauerte Gefahr: Niemand wusste des Morgens beim Aufstehen, ob er den Abend noch erleben würde.
Anfang 1944 kam Jurek mit seiner Mutter ins Konzentrationslager Ravensbrück. Die Mutter starb an den Folgen der Lagerhaft, der Vater gelangte zuerst nach Auschwitz und dann in das KZ Sachsenhausen. Er überlebte und fand seinen Sohn wieder. Die beiden liessen sich nach dem Krieg in Ostberlin nieder.
Weltliteratur
Jurek Becker fühlte sich vom Kommunismus angezogen, trat der „Freien Deutschen Jugend“ bei, leistete nach dem Abitur zwei Jahre Dienst bei der Volkspolizei und wurde Parteimitglied. Nach 1957 studierte er an der Humboldt-Universität Philosophie und Jurisprudenz und schrieb nebenher Texte für das Kabarett und für den Film. Mit seiner „politisch unzuverlässigen Haltung“ geriet er bald ins Visier der Staatssicherheit. Dennoch konnte „Jakob der Lügner“ im Jahre 1969 im renommierten Ostberliner Aufbau-Verlag erscheinen. Das Buch erhielt gute Kritiken und ebnete dem Autor den Weg in den Vorstand des Schriftstellerverbandes. Auch in der Bundesrepublik wurde der Roman durchwegs lobend besprochen. Ein Rezensent der Nachkriegsgeneration, Volker Hage, zählte das Buch zum „Kanon der deutschen Literatur, ja der Weltliteratur“.
Als Wolf Biermann 1976 nach einem Konzert in Köln nicht mehr in die DDR zurückkehren durfte, traten Becker und andere namhafte Intellektuelle mit einem Protestschreiben, das nichts bewirkte, für den Liedermacher ein. Im nächsten Jahr gewährte die DDR dem Schriftsteller einen Auslandurlaub, den er zu Lesereisen in der Bundesrepublik und für eine Gastprofessur in den USA nutzte. Auch ein weiterer Urlaub wurde dem unbequemen Schriftsteller, welcher sich von der DDR nicht ganz lösen mochte, und auch vom deutschen Verfassungsschutz observiert wurde, gewährt. Nach dem Fall der Berliner Mauer schrieb Becker das Drehbuch zur Fernsehserie „Liebling Kreuzberg“. Es wurde sein grösster Erfolg nach „Jakob dem Lügner“. Jurek Becker starb im Jahre 1997 in Schleswig Holstein.
Hoffnungsträger im Ghetto
Nun zum Inhalt des Romans. Jakob Heym, der die Geschichte, deren tragischer Held er ist, im Viehwaggon erzählt, wäre unter normalen Verhältnissen ein kleiner jüdischer Krämer gewesen. Doch die Verhältnisse sind nicht normal. Heym lebt im Ghetto von Lodz, und verrichtet am Bahnhof Zwangsarbeit. Durch einen Zufall wird dieser unauffällige Mensch für die Bevölkerung des Ghettos zu einem Hoffnungsträger. Und das kommt so. Eines Tages wird er auf das Revier des Ghettos befohlen und befürchtet für sich das Schlimmste. Doch er hat das Glück, auf einen mild gestimmten deutschen Wachhabenden zu treffen, der ihn laufen lässt. Zufällig läuft in der Amtsstube ein Radio, und Heym hört die Wortfetzen einer Nachrichtensendung. „In einer erbitterten Abwehrschlacht“, meldet der Sprecher, „gelang es unsern heldenhaft kämpfenden Truppen, den bolschewistischen Angriff zwanzig Kilometer vor Bezanika zum Stehen zu bringen...“
Radios und Zeitungen sind im Ghetto bei Todesstrafe verboten, und Heym sieht sich unverhofft im Besitz einer Information, die er andern voraushat. Natürlich kann er diese Nachricht nicht für sich behalten. Er erzählt sie Mischa, einem Freund unter den Zwangsarbeitern am Bahnhof, dieser erzählt sie dem redseligen Kowalski weiter und bald weiss es das halbe Ghetto: Die Russen nähern sich Bezanika. Natürlich will man wissen, warum Jakob Heym so gut informiert ist. Dieser lügt und sagt, er besitze ein Radio, das er sorgfältig versteckt halte. Unter den Bewohnern des Ghettos erhebt sich die übermächtige Hoffnung auf baldige Befreiung und Errettung. Die Selbstmorde unter der Bevölkerung, bisher an der Tagesordnung, hören auf. Man wagt, sich mit Zukunftsplänen zu beschäftigen. Und man möchte immer Neues von diesem Jakob Heym erfahren. „Gibt es Neuigkeiten? Stimmt das mit den Russen?“ fragen ihn die Bewohner.
Verlogenen Trost spenden?
Und Heym, der nicht wagt, die Hoffnungen, die man in seine Informationen setzt, zu enttäuschen, verstrickt sich mehr und mehr in ein Lügengespinst. Er meldet, wie die Russen vorankommen, mühsam und durch Rückschläge aufgehalten zwar, aber letztlich doch unaufhaltsam. Widersprüchliche Empfindungen bewegen ihn. Soll er seinen Schicksalsgenossen weiterhin verlogenen Trost spenden oder soll er ihnen eingestehen, dass er die Geschichte mit dem Radio bloss erfunden hat? Mit einer weiteren Lüge glaubt er einen Ausweg gefunden zu haben. Er sagt, sein Radio sei kaputt, es sende keine Nachrichten mehr. Doch da schafft man einen Fachmann herbei, der das Gerät reparieren soll und Heym, aus Angst, auf seiner Lüge ertappt zu werden, sagt, da gebe es nichts zu reparieren, sein Radio sei intakt und sende weiterhin Nachrichten.
Nicht alle Menschen im Ghetto sind überzeugt von der Glaubwürdigkeit von Jakob Heyms Informationen. Professor Kirschbaum, in besseren Zeiten ein bekannter Herzspezialist, spricht bei Heym vor und gibt ihm zu bedenken, welcher Gefahr er sich selbst und die Bevölkerung aussetze, wenn die Deutschen erführen, dass Radionachrichten verbreitet würden. Konfrontiert mit diesem Vorwurf, findet der ängstliche Heym den Mut, sich zu seinen Lügen zu bekennen und diese zu verteidigen, es sei denn bloss als Lebenslügen, welche die Existenz etwas erträglicher machten. „Genügt es Ihnen nicht“, ruft er dem Professor zu, „dass wir so gut wie nichts zu fressen haben, dass jeder fünfte von uns im Winter erfriert, dass jeden Tag eine halbe Strasse zum Transport geht? Das alles reicht noch nicht aus? Und wenn ich versuche, die allerletzte Möglichkeit zu nutzen, die sie davon abhält, sich hinzulegen und zu krepieren, mit Worten, verstehen Sie, mit Worten versuche ich das! Weil ich nämlich nichts anderes habe! Da kommen Sie mir und sagen, es ist verboten.“ Der Professor gehört zu den wenigen Ghettobewohnern, die imstande sind, passiven Widerstand zu leisten. Kurze Zeit nach diesem Gespräch wird er zum Chef der Gestapo, dem Sturmbannführer Hardtloff gerufen, der eine Herzattacke erlitten hat. Auf dem Weg zu dessen Residenz vergiftet sich Kirschbaum, um nicht ärztliche Hilfe leisten zu müssen. Hardtloff stirbt.
Tiefe Mutlosigkeit
Jakob Heym aber fährt fort, seine Radioinformationen zu erfinden. Die „Rote Armee“, fabuliert er, stehe bei der Kreisstadt Pry, nur noch 150 Kilometer von Lodz entfernt, die Errettung sei nahe. Dann aber erfasst ihn ein Anfall von tiefer Mutlosigkeit, und er hält es nicht mehr aus mit seinem Geheimnis. Dem Freund Kowalski gesteht er, dass er kein Radio besitze und nie eines besessen habe. Mit einem traurigen Lächeln und der Versicherung, er werde ihn niemals mehr nach Nachrichten fragen, verlässt ihn Kowalski und erhängt sich am Fensterkreuz seiner Wohnung. Um dieselbe Zeit beginnen die Deutschen mit der Räumung des Ghettos und den Deportationen. Dem Waisenkind Lina, das er in seiner Wohnung versteckt gehalten hat und das sich über die bevorstehende Reise freut und nach dem Reiseziel erkundigt, erzählt Heym seine letzte Lüge. Es gehe, sagt er, „ungefähr so weit wie nach Afrika“.
Am Schluss des Romans schildert der Erzähler seine Begegnung mit Jakob Heym und der kleinen Lina beim Abtransport im Viehwaggon. Hier erfährt er die Geschichte von Heym und seinem Radio. Der Erzähler wird Deportation und Konzentrationslager überleben. Er kann die Geschichte der Nachwelt weitergeben.
Kostbarer Solitär
Jurek Becker hat keine eigenen Erinnerungen an das Ghetto bewahrt, aber man weiss, dass er sich vor der Abfassung seines Romans eingehend über das Leben in den Ghettos informiert hat. Er will keine historische Darstellung und keinen historischen Roman schreiben. Er hebt vielmehr die Handlung seiner Geschichte ins Präsens und schreibt als einer, der mit dabei ist und den Alltag der Bewohner teilt. Die Figuren, die er vorführt, sind keine tragischen Helden, sondern Menschen wie du und ich, mit ihren kleinen Sorgen und bescheidenen emotionalen und materiellen Bedürfnissen. Gewiss lastet über allem die Vernichtungsdrohung der Besatzungsmacht; aber sie füllt das Innerste der Individuen nicht aus.
Der Schilderung bleibt Platz für leise Ironie und teilnehmendem Humor. Dies hob Marcel Reich Ranicki hervor, der schrieb: „Bei einem so düsteren Thema lässt sich mit Düsterkeit am wenigsten ausrichten, eher schon mit hellen und heiteren Kontrastgestalten, mit Witz und Komik.“ Die ungezwungene, zuweilen fast heitere Art von Beckers Schilderung gibt seinen Gestalten eine individuelle Authentizität, die sich gegenüber der Fatalität ihrer Lebenssituation behauptet. Dies macht den Roman Beckers zu einem kostbaren Solitär unter den literarischen Zeugnissen, die wir zum schwierigen Thema besitzen. Glaubwürdig ist auch, so seltsam sie uns erscheinen mag, die Handlung. Wir wissen aus den Berichten von andern verfolgten Juden, welches enorme Gewicht den Gerüchten im Informationsvakuum der Ghettos und Konzentrationslagern zukommen konnte. So schreibt der Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel über seine eigene Ghetto-Erfahrung: „Allgemein wurde angenommen, dass wir bis zum Kriegsende, bis zum Einmarsch der ‚Roten Armee‘, im Ghetto bleiben würden. Dann würde das alte Leben wieder einkehren. Somit herrschte weder der Deutsche noch der Jude im Ghetto, sondern die Illusion.“
Erinnerungsverweigerung
Jurek Beckers Roman „Jakob der Lügner“ erschien 1969, zu einem Zeitpunkt, da die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit die deutsche Öffentlichkeit besonders intensiv beschäftigte. Während in der DDR der Antifaschismus ein wichtiges Element des kommunistischen Gründungsmythos war und Entnazifizierung und Umerziehung in den Nachkriegsjahren energisch betrieben wurden, gestaltete sich in Westdeutschland das, was man als „Vergangenheitsbewältigung“ bezeichnete, zum langwierigen Prozess. Hier dominierte in den Nachkriegsjahren die Erinnerungsverweigerung in ihren verschiedenen Formen von Verdrängen, Verschweigen, Verleugnen oder Beschönigen.
Unter dem Einfluss des Kalten Krieges erhielten in der Bundesrepublik die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft sowie die Westbindung den Vorrang vor einer rückhaltlosen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen. Vom Holocaust sprach man kaum, die Rolle der Wehrmacht wurde nicht selten auf den Abwehrkampf gegen den Bolschewismus reduziert. Im Jahre 1961 fand der Eichmann-Prozess in Jerusalem weltweit, auch in Deutschland, ein riesiges Medienecho. Im deutschen Bundestag wurde in den folgenden Jahren eine hitzige Debatte über die Frage der Bestrafung von Nazi-Verbrechen geführt, die damit endete, dass die Verjährung bei Völkermord aufgehoben wurde. Es war schliesslich die 68er-Generation, welche der Lebensgeschichte ihrer Eltern nachspürte und diese zum Gegenstand erregter Debatten machte. Die Geschichte der Nazi-Verbrechen wurde in der Folge zu einem wichtigen wissenschaftlichen Forschungsfeld. Die breite Öffentlichkeit beschäftigte sich erst nach 1979, nach der Ausstrahlung der amerikanischen Fernsehserie „Holocaust“, eingehender mit dieser Thematik.
Es wäre indes verfehlt, den Erfolg von Jurek Beckers Roman allein den Zeitumständen zuzuschreiben. „Jakob der Lügner“ ist ein Kunstwerk, das seine Zeit überdauert. Es wird seine Leser finden, solange die Erinnerung an die nationalsozialistische Judenverfolgung wach bleibt.