Herr Goldstein, wo waren Sie am 17. Juli 1936, als Franco mit deutscher und italienischer Hilfe gegen die spanische Republik putschte?
In Palästina, bei meiner Freundin Lotta. Als ich von dem Putsch hörte, war für mich klar: Ich geh nach Spanien! Da hat es bittere Tränen gegeben bei Lotta. Aber ich bin dabei geblieben und hab ihr gesagt: „Wenn ich das überlebe, dann wollen wir uns gerne wieder zusammenfinden - in Deutschland.“
Dabei hätten Sie in Palästina doch ein relativ sicheres und angenehmes Leben führen können.
Ja. Lottas Vater hatte größere Ländereien in Palästina gekauft und da hatte ich die Idee, eine Erdbeerplantage anzulegen. Aber als dann der Putsch kam, da war das für mich vorbei mit Erdbeerplantagen. Ich bin dann also nach Marseilles gefahren. Auf dem Schiff waren noch anderthalb Dutzend andere Jugendliche aus Palästina, die nach Spanien gingen. Von Marseilles ging es mit der „Ciudad de Barcelona“ Richtung Spanien. Wir waren ungefähr dreißig Freiwillige, aus verschiedenen Ländern. Auch Frauen waren dabei! Wir wurden unter Deck in Tonnen versteckt. Als wir dann durch die Nichtinterventionskontrolle hindurch waren, kamen wir endlich aus den Tonnen raus. Und dann haben uns die spanischen Seeleute richtig gut verpflegt. Das hatte allerdings aber für diejenigen, die nicht seefest waren, schreckliche Folgen. Die fingen dann an zu kotzen wie die Reiher. Schließlich sind wir nach Valencia gekommen, von dort ging es nach Albacete, zur Ausbildung.
Aber Sie waren doch nie Soldat gewesen. Konnten Sie überhaupt mit Waffen umgehen?
Ich hatte noch in Deutschland im Roten Frontkämpferbund schießen gelernt, im Heessener Wald, bei Hamm. Jedenfalls, als ich so acht oder zehn Tage dort in Albacete die Ausbildung mitgemacht hatte, fragten sie eines Abends: „Wer kann Auto fahren?“ Da hab ich mich gemeldet und bin ich mit drei anderen nach Madrid gekommen, da wurde das erste Transportregiment zusammengestellt.
Was für Aufgaben hatte das Regiment?
Die eine Aufgabe war, Nahrungsmittel zu den Einheiten an die Front zu bringen. Aber vor allem war es unsere Aufgabe nach Barcelona oder nach Valencia in die Hafenstädte zu fahren und die Schiffsladungen von dort nach Madrid zu bringen. Ich gehörte zum deutschsprachigen Bataillon. Und dann gab es im Regiment noch ein französisch- und ein englischsprachiges Bataillon.
Wie viele dieser Interbrigadisten waren Kommunisten?
Die Deutschen, die in Spanien in den Internationalen Brigaden gekämpft haben, waren zu 90% Kommunisten, der Rest waren Sozialdemokraten und Leute, die einfach humanistische Antifaschisten waren. Ich bin also erst in diesem ersten Transportregiment gewesen und dann zur Artillerie-Einheit der 35. Division versetzt worden. Das war die Division der Interbrigaden.
Haben Sie während der Schlachten keine Angst gehabt?
Nee! Ich habe weder Angst gehabt im Gefecht, mit unseren Kanonen, noch als die Faschisten uns bombardiert haben. Ja, ich bin da ein glücklicher Mensch. Als wir das erste Mal in Madrid an die Front gefahren sind und mir die Kugeln den Kopf pfiffen, da bin ich schon etwas zusammengezuckt. Aber dann habe ich mir gesagt: „Nein! Nicht zittern. Kämpfen!“ Die meisten von uns sind standhaft gewesen. Nur ganz wenige Interbrigadisten sind psychisch krank geworden.
Und dann sind Sie verwundet worden, Anfang 1938…
Das passierte in Caspe. Da kamen plötzlich die Messerschmitts. Einige unserer Fahrer rannten weg. Ich bin also hinters Steuer und plötzlich blieben dann zwei Lastwagen - jeder hatte eine Kanone drauf und Munition – unter Beschuss vor mir stehen. Ich hab dann auch gehalten und bin unter meinen Lastwagen gekrochen. Und dann sah ich wie der Erste der Lastwagen in Flammen aufging und die Granaten abgingen. Da war es mir also unter meinem Wagen nicht mehr geheuer. Ich sprang also raus und wollte zu einem der Gräben am Straßenrand. Auf dem Weg dahin kriegte ich ein paar Granatensplitter ab, in Fuß und Bein. Ich sprang in einen dieser Gräben und blieb dort so lange bis der Angriff vorüber war. Dann kroch ich wieder aus dem Graben heraus und wartete auf die Sanitäter.
Ich kam zur Behandlung ins Spital nach Vich. Da hatten wir einen deutschen Chefarzt, Dr. Willy Glaser. In Deutschland war er bei den Deutsch-Nationalen gewesen. Doch als ein Freund von ihm von den Nazis ermordet worden war ist er mit seiner Frau und seiner Tochter erst in die Emigration und dann nach Spanien gegangen.
Im September 1938 verkündete der spanische Ministerpräsident auf Druck des Völkerbundes die Auflösung der Internationalen Brigaden. Doch an den Beschluss des Völkerbunds, dass alle ausländischen Einheiten Spanien verlassen sollen, hat sich nur die Republik gehalten.
Ja, die Legion Condor und die Italiener, die sind ja in Spanien geblieben. Nur wir Interbrigadisten sind zurückgezogen worden. Doch im Dezember 1938, als sich die Faschisten Barcelona näherten, da hat die spanische Regierung uns gebeten, noch ein letztes Mal an die Front zu gehen. Da haben wir den so genannten „zweiten Einsatz“ gemacht.
In welcher Einheit waren Sie damals?
Ich bin in der XI. Brigade im Thälmann-Batallion gewesen. Wir sind dann also auf Barcelona zumarschiert. Den ersten Zusammenstoß mit den Faschisten gab es bei bei Granollers, einem Städtchen nicht weit von Barcelona. Da ist der Kommissar der Xi. Brigade, Ernst Blank, ein jüdischer Genosse aus Kassel, im Kampf gefallen. Und da haben die Faschisten gemerkt: Die Interbrigaden sind wieder da! Drei Tage hat sich nichts getan, aber dann haben sie Verstärkung rangeholt. Ja, und dann sind wir Schritt für Schritt Richtung Grenze. Bei Figueras sind wir noch einmal in Stellung gewesen. Und dann sind wir Richtung Grenze. Aber der „zweite Einsatz“ hat ein paar Zehntausend oder vielleicht Hunderttausend spanischen Frauen, Männern und Kindern die Möglichkeit gegeben zu flüchten. Wir sind am 11. Februar 1939 über die Grenze gegangen. Auf der französischen Seite haben uns Soldaten empfangen. Die haben uns alles was wir hatten – nicht nur die Gewehre, auch die Uhren – genommen. Und dann sind wir ins erste Lager gegangen. Das war Saint Cyprien. Ein Stück Strand am Meer. Und Stacheldraht. NICHTS war da. Außer: Stacheldraht und Sand.
Von dort wurden Sie in die französischen Lager Gurs und Le Vernet deportiert. Hatten Sie nach dem Einmarsch der Deutschen keine Möglichkeit aus Le Vernet zu fliehen?
In Le Vernet bin ich mit einer der Kantinenfrauen in ein freundschaftliches Gespräch gekommen. Sie hat mich öfters zu einer Tasse Kaffee und zu einem Stück Kuchen, in ihre Kantine eingeladen. Ich hätte mit ihr jederzeit aus dem Lager fliehen können. Die hätte mich jederzeit mitgenommen. Nachdem ich und sieben Genossen zur Deportation bestimmt worden waren, habe ich meinen Parteisekretär gefragt, ob ich versuchen soll mit ihrer Hilfe zu fliehen. Da hat er gesagt: „Nein, Julio, du übernimmst die Gruppenleitung dieser sieben Mann.“ Und da hab ich mich dran gehalten. Wir wussten ja nicht, wohin wir transportiert wurden. Dass wir in Auschwitz, in der Todesfabrik landen. Vielleicht hätte der Parteisekretär dann gesagt: „Ja, geh zu den französischen Partisanen.“
Im Juli 1942 wurden Sie und ihre Gruppe über Drancy nach Auschwitz deportiert.
Ja, wir sind dann nach Auschwitz, nach Birkenau, gekommen. Da haben uns die Kapos sofort bei der Ankunft gesagt: „Wer nicht spurt, wird sofort vergast“. Als das gesagt wurde, habe ich ja noch nicht gewusst, was dahinter steht. Aber als ich dann im Lager war, da habe ich das gewusst. Und dann sagten uns die Kapos noch: „Ihr habt nur bei euren Baracken zu bleiben. Wer sich von der Baracke entfernt und erwischt wird, wird auch sofort vergast!“ Am zweiten Tag stehe ich bei unserer Baracke und da kommt einer auf mich zu und ruft: „Julio! Erkennst du mich denn nicht?“
Wer war das?
Das war ein Interbrigadist! Karl Sutor, aus Wattenscheid, bei Bochum. Sein Glück war, dass er war Elektriker war. Deswegen ist er in Auschwitz als Lagerelektriker eingesetzt worden. Er sagte: „Julio, du musst sehen, dass du hier raus kommst!“
Sag ich ihm: „Und kannst du mir auch sagen, wie ich hier rauskommen soll?“ Sagt er: „Ja! Morgen früh beim Appell, wird aufgerufen 'Grubenkommando Jawischowitz'. Da stell dich zu.“
Sag ich: „Aber ich bin nicht allein.“
Einer von uns war ja schon bei der Selektion auf die falsche Seite gekommen. Gustav Hartok. Wir waren also noch vier Deutsche, und diese zwei Ausländer. Das sagte ich ihm.
Sagt er: „Sag allen Bescheid, stellt euch zusammen.“ So sind wir zusammen nach Jawischowitz gekommen.
Dann, als wir in der Grube waren, kam die Anweisung des Grubendirektors: „Es kann erst ausgefahren werden, wenn die vorgeschriebene Menge Kohle gefördert ist.“ Von da an sind wir jede Nacht zehn, elf, zwölf Stunden unter Tage gewesen.
In die Grube von Jawischowitz sind in diesen dreißig Monaten 30.000 Häftlinge eingefahren. Und alle acht bis zehn Tage war Selektion. Und wenn einer nicht mehr zur Arbeit in der Grube taugte, sich kaum noch aufrecht halten konnte, wurde er wie ein Stück Vieh auf den Lastwagen geworfen. Und am nächsten, übernächsten Tag kriegte ich dann Neue.
Ich bin dann Kapo geworden. Und immer wieder kamen Neuankömmlinge zu mir und sagten: „Kapo, als wir dort mit der Bahn angekommen sind, sind meine Frau und meine Kinder auf die andere Seite gekommen. Weißt du vielleicht wo die hingekommen sind? Kannst du mir vielleicht helfen, denen eine Nachricht zukommen zu lassen?“
Dann musste ich ihnen die Wahrheit sagen: „Diejenigen, die auf die andere Seite gekommen sind, sind sofort vergast worden. Siehst deine Frau nicht wieder. Und deine Kinder.“
Dann haben sie sich an meiner Brust ausgeweint. Und das hat sich alle acht oder zehn Tage wiederholt! Jeder Tag ist dort wie ein Tag in der Hölle gewesen! Aber die schlimmsten Minuten für mich waren jene, wenn ich immer wieder Vätern sagen musste: „Deine Frau und deine Kinder sind tot.“ Und da hab ich mir vorgenommen: „Goldstein, dich kriegen die verdammten Nazis nicht kaputt! Und wenn du das hinter dir hast, dann suchst du dir eine Frau und setzt mit ihr Kinder in die Welt. Für diese Kinder, die sie jetzt da umbringen!“ Ich hab dann auch angefangen zu überlegen: Was können wir tun, damit die Räder in der Grube Jawischowitz nicht für den Sieg rollen?
Wie haben Ihre Genossen darauf reagiert, als Sie beschlossen, die Produktion in der Grube zu sabotieren?
Einer hat gesagt, was ich da vorschlage sei Abenteurertum: „Wenn die uns erwischen, dann hängen sie uns auf! Aber die Partei braucht uns doch nach dem Krieg.“ Und da hab ich dem Genossen geantwortet: „Wenn die Offiziere an der Front sagen: 'Jetzt wird zum Angriff gegangen gegen die Hitler-Armeen!', und die Soldaten dann auch sagen: 'Das ist Abenteurertum, wir gehen jetzt nicht' – dann wird Hitler-Deutschland nie besiegt! Und dann sitzen wir hier bis in alle Ewigkeit. Das was die Soldaten an der Front machen, das ist hier unsere Aufgabe.“ Und da ich immer schon Demokrat war, hab ich abstimmen lassen. Zwei Genossen haben gegen mich, die anderen für mich gestimmt. Einer, der gegen mich gestimmt hat, der hat auch einen Namen: Der hieß Hermann Axen.
….später Mitglied des Politbüros der SED…
…ja, die Partei brauchte ihn nach dem Krieg! Das hat sich ja gezeigt!
Nachdem Sie nach Buchenwald deportiert und das Lager im April 1945 befreit worden war, gingen Sie…
…in meine Heimat, ins Ruhrgebiet. Dort war ich zunächst als AGITPROP-Sekretär meiner Partei tätig. Eines Tages kommt eine Sekretärin ins Zimmer und sagt: „Kurt, da ist ein Herr Heine, der will dich sprechen!“ Sag ich: „Ist das so ein kleiner Dicker?“
„Ja“.
Sag ich: „Jetzt weiß ich wer das ist! Mein Grubendirektor aus Jawischowitz!“ Und dann hab ich den Herrn Heine reinkommen lassen. Er hat sich gefreut, dass er einen Jawischowitzer trifft! Und dann hab ich ihm gesagt: „Ja, Herr Heine, bei mir ist die Freude auch groß. Jetzt hab ich den Mann vor mir stehen, der die Anweisung gegeben hat, dass erst ausgefahren werden darf, wenn die vorgeschriebene Menge Kohle gefördert ist. Das hat dazu geführt, dass wir Häftlinge zehn, zwölf Stunden unter Tage bei der Hungernahrung die Sie uns gegeben haben arbeiten mussten! Das hat Zehntausende das Leben gekostet. Sie sind ein Mörder in meinen Augen.“
Und da ist er blass geworden und hat gesagt, dass könne doch nicht mein Ernst sein, er habe uns Juden doch immer gut behandelt. Und da hab ich gesagt: „Ich weiß, dass Sie alle die auf dem Gewissen haben, die in Jawishowitz reingekommen und nach acht, zehn Wochen als Muselmänner auf den Lastwagen geworfen worden sind. Und dann zur Vergasung gebracht worden sind. In meinen Augen sind Sie ein Mörder und ich werde auch über Sie einen Bericht machen. Damit Sie Ihren Prozess kriegen!“
Und dann gab es in Jawishowitz noch den Betriebsführer Borgstedt. Wenn der einen von uns in der Grube gesehen hat, dann hat der mit seinem Steigerstock auf den losgeschlagen. Das war ein richtiger Mörder. Und der Heine hatte keine Zeit mehr gehabt der Frau Borgstedt zu sagen, dass ich eine schlechte Adresse für sie bin, denn zwei Tage später kam diese Frau auch zu mir. Die wollte einen Persilschein! Und der habe ich gesagt: „Ihr Mann ist ein Mörder! Wenn der einen von uns jüdischen Häftlingen mit seinem Steigerstock, mit seinem Steigerhammer, geschlagen hat - das war ein Todesurteil!“
Das konnte sie gar nicht glauben. Ihr Mann könne noch nicht mal ein Kaninchen schlachten, da müsse sie doch immer den Nachbarn holen. „Ja!“, sagte ich ihr. „Kaninchen konnte er nicht schlachten, aber Juden, die konnte er totschlagen!“
Und dann habe ich einen Bericht für die Engländer gemacht. Und die haben auch einen Prozess gekriegt. Sowohl der Heine wie auch der Borgstedt. Die sind verurteilt worden.
Zu wie viel Jahren?
Zu zwei oder drei Jahren.
Herr Goldstein, rund sechzig Jahre nach Beginn des Spanischen Bürgerkriegs hat Spanien Ihnen und den anderen Interbrigadisten die Ehrenbürgerschaft verliehen.
Ja, 1995 waren wir deswegen in Madrid. Spanien ist das prägendste Erlebnis meines Lebens gewesen. Das kann ich nach über 90 Lebensjahren sagen. Und das was wir in Spanien gewollt haben, Spanien freikämpfen, damit die Volksfrontpolitik fortgesetzt werden konnte, dafür stehe ich auch heute noch ein.