Tausende Stifte, die sich einem Attentäter mit Kalaschnikow entgegenstrecken: Das war weltweit die Reaktion unzähliger Karikaturisten auf die Mordanschläge von Paris. Seither ist nicht nur die Diskussion über die Legitimität von Mohammed-Karikaturen und die Grenzen der Satire von Neuem geführt, sondern auch die Verteidigung der Presse- und Meinungsäusserungsfreiheit hochgehalten worden. Und das ist gut so.
Ähnlich wie der Kunst obliegt es der Satire, von einer Aussenseiterposition her auf die Gesellschaft zu blicken, sie mittels Umdeutung zu kommentieren und so auch zu kritisieren. Solange die Karikatur nicht verletzend nach unten tritt, geniesst sie Narrenfreiheit – auch wenn nicht jede Provokation zu jeder Zeit sinnvoll und notwendig ist. Der Journalismus unterscheidet sich davon in Rolle und Anspruch: Er soll auf einer in der Gemeinschaft akzeptierten Basis der Wahrheit möglichst nahe kommen. Was also gilt es von seiner Seite her, quasi mitten aus der Gesellschaft heraus, einem Fundamentalismus entgegenzusetzen, der ausser der eigenen keine andere Weltsicht akzeptiert.
Wer sind «wir»?
«Wenn in der Öffentlichkeit über Aufklärung gesprochen wird, entsteht zuweilen das Gefühl, wir seien eine homogene Wertegemeinschaft in Differenz zum Islam. So ist es natürlich nicht», sagte der politische Philosoph Francis Cheneval in der Sendung «Reflexe» von Radio SRF 2 Kultur. Im Umgang mit Geschlechterrollen, Homosexualität oder Einwanderung offenbaren sich gesellschaftliche Bruchlinien, die sich nicht zwischen einheimischen und zugewanderten, jüdischen oder muslimischen Bevölkerungsgruppen ziehen lassen.
Nun gehört es ja zur Aufgabe des Journalismus, Orientierung zu schaffen und Komplexität zu reduzieren. Eine globalisierte Welt jedoch erfordert differenzierte Sichtweisen, obschon sich viele Menschen einfache Erklärungen wünschen. «Lügenpresse, halt die Fresse» skandieren Pegida-Demonstrierende in Deutschland. Zu trennen zwischen «Uns» – den Einheimischen – und «Ihnen» – den Zugewanderten – verspricht Zugehörigkeit und Sicherheit in einer Gesellschaft, in der so manchem das Gemeinschaftsgefühl abhanden gekommen ist.
Journalismus vor neuen Anforderungen
Journalistinnen und Journalisten sehen ihre Deutungshoheit angesichts veränderter medialer Angebots- und Nutzungsformen in Frage gestellt. Informationen unterschiedlichster Quellen sind im Internet rund um die Uhr verfügbar. In Blogs und sozialen Netzwerken kann sich jeder seinen eigenen Blick auf die Welt verschaffen – und diesen auch kundtun.
Die traditionellen, national verankerten Medien bleiben dennoch wichtige Orte der öffentlichen Auseinandersetzung: Sie dienen als Plattformen zur Diskussion von Wertefragen und Aushandlung gesellschaftlicher Regeln. Medienschaffenden kommt hierbei die Rolle von Moderatoren zu, die ganz unterschiedliche Stimmen und Perspektiven in den Diskurs einbringen. Dazu eignen sich vor allem Formate ausserhalb des klassischen Nachrichtenjournalismus, denn dieser ist ganz eigenen Dynamiken ausgesetzt.
Alltagsrealität kommt zu kurz
Die Medienforschung hat etwa aufgezeigt, dass der Islam in der medialen Berichterstattung der Schweiz mehrheitlich im Zusammenhang mit politischen Konflikten im Ausland in Erscheinung tritt. Merkmale wie Gewalt, Schaden und die Etablierung von Themen spielen als Nachrichtenwerte eine gewichtige Rolle in der Auswahl der berücksichtigten Ereignisse. «Es ist zu betonen», heisst es in einer Publikation zum Nationalen Forschungsprogramm «Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft» (NFP 58) aus dem Jahr 2011, «dass der in den Schweizer Medien präsentierte Islam nur sehr wenig zu tun hat mit einer Darstellung der Lebensrealität der Schweizer Muslime».
90 Prozent der in der Schweiz lebenden Musliminnen und Muslime stammen aus dem Westbalkan und der Türkei. Sie orientieren sich an der westeuropäischen Rechts- und Gesellschaftsordnung und sind, wie auch ein grosser Teil der hiesigen Bevölkerung ohne Migrationshintergrund, religiös kaum aktiv, wie der Bundesrat in einem Bericht festhielt. Dennoch ergab der jüngste Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung, dass im Jahr 2013 die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer den Islam als Bedrohung wahrnahm.
Mit den Abstimmungen zur Initiative gegen den Bau von Minaretten im Jahr 2009 und für ein Verhüllungsverbot im Kanton Tessin im Jahr 2013 hat die politische Agenda auch hierzulande einen den Islam problematisierenden Diskurs geprägt. Hier kamen die Medien wiederum nicht umhin, sich an Nachrichtenwerten wie der Aktualität (politischer Vorstoss), der Stellung der Beteiligten (die SVP als gewichtige Partei) oder der Aussagekraft von Bildern (Burka und Minarette) zu orientieren.
Modell eines interkulturellen Dialogs
«Es gilt», schrieb der Historiker Thomas Maissen Mitte Januar in der Neuen Zürcher Zeitung, «eine Koalition zu bilden gegen die Mörder von Paris, die auch Mörder in Nigeria, im Irak und vielerorts sind; Mörder an Christen und Juden, aber weltweit vor allem Mörder an Muslimen, zu denen nun auch der Pariser Polizist Ahmed Merabet gehört. Schon allein deshalb darf es kein Kampf zwischen Religionen sein; auch nicht ein Kampf von Atheisten gegen Gläubige oder der Nationalisten gegen die Zuwanderer, noch der Spötter gegen die Ernsthaften, sondern eine Allianz der Dialogbereiten gegen die Gewalttäter.»
Wie ein solcher Dialog losgelöst von einem durch Nachrichtenmeldungen heraufbeschworenen Kampf der Kulturen aussehen könnte, macht das Schweizer Radio und Fernsehen SRF in einem kleinen, aber feinen Sendungsformat sichtbar. Als einziges Medienunternehmen hierzulande ist die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG) per Konzession dazu verpflichtet, in ihren Programmen «das Verständnis, den Zusammenhalt und den Austausch unter den Landesteilen, Sprachgemeinschaften, Kulturen, Religionen und den gesellschaftlichen Gruppierungen» zu fördern.
Im unregelmässig ausgestrahlten Beitrag «Bilder zum Feiertag» besucht jeweils ein junges Mitglied einer Glaubensgemeinschaft die Feierlichkeiten einer anderen Gemeinde. So begeht die jüdische Reporterin Perl Muheim mit Tamilen in Adliswil das hinduistische Pongalfest, und der buddhistische Reporter Tenzin Khangsar wohnt dem Fest der Kreuzerhöhung einer äthiopisch-orthodoxen Gemeinde in Glattbrugg bei. Die Tatsache, dass mit Raschida Bouchouch auch eine muslimische Frau mit Kopftuch als Reporterin vor der Kamera steht, sorgte 2009 bei der Lancierung des neuen Sendungskonzeptes für Aufregung – was dessen Unüblichkeit und Notwendigkeit zugleich aufzeigte.
Schwierigkeiten mit dem Thema Religion
«Man berichtet bestenfalls über den Islam, aber den Islam als alltägliche Realität wahrzunehmen – das ging vielen zu weit», schrieb dazu Nathalie Wappler, ehemalige Leiterin der zuständigen Redaktion Sternstunden und heutige Abteilungsleiterin von SRF Kultur. «Das Beispiel der muslimischen Reporterin hat der Redaktion gezeigt, dass es noch eine ganze Menge an Förderung und Verständnis für andere Religionen bedarf.»
Damit wiederum scheinen sich die meisten anderen Redaktionen schwer zu tun: «In der Schweiz haben viele Journalisten Mühe mit dem Thema Religion», sagt Urs Dahinden, der die Studie «Darstellung von Religionen in Schweizer Massenmedien» (NFP 58) leitete und dazu zahlreiche Medienschaffende befragte. Nur wenige Redaktionsmitarbeitende seien auf das Thema Religion spezialisiert: «Es fehlt an fachlichen Kenntnissen, aber auch an einer grundsätzlichen Neugier», so der Professor für Informationswissenschaft an der HTW Chur.
Beteiligtsein statt distanziertes Beobachten
«Wie erleben Sie es, in der Schweiz einen Turban zu tragen?», fragt die Muslimin Raschida Bouchouch in einer Ausgabe von «Bilder zum Feiertag» ihren Gesprächspartner der Sikh-Religion. Und Mahintha Sellathurai berichtet dem Gastgeber am jüdischen Chanukka-Fest, dass es für sie zuweilen schwierig sei, zwischen der tamilischen und der schweizerischen Mentalität zu leben. «Die Juden sind seit dem babylonischen Exil gewohnt, in anderen Kulturen zu leben», entgegnet dieser. «Aber auch wir müssen immer wieder lernen, damit umzugehen».
Dass die Reporterinnen auch heikle Themen ansprechen, verleiht den Beiträgen eine journalistische Glaubwürdigkeit. Die Alltagsrealität wird nicht zugunsten eines einseitigen Zelebrierens von multikultureller Vielfalt ausgeblendet. Indem sie ihre eigenen Erfahrungen reflektieren und ins Gespräch einbringen, geben die Journalistinnen ihren Gesprächspartnern die Möglichkeit, selbst Stellung zu beziehen. Man begegnet sich auf Augenhöhe und trägt damit dem Umstand Rechnung, dass soziale Wirklichkeit immer auch eine Frage der Perspektive ist.
Eindrücklich zeigt dies auch der Dokumentarfilm «Der Muslim-Bestatter – Vom Leben und Sterben zwischen den Kulturen» aus dem Jahr 2013, den SRF Mitte Februar erneut ausgestrahlt hat. Rund einen Monat nach dem Anschlag auf «Charlie Hebdo» bot der Beitrag einen Blick auf den Islam in der Schweiz, der sich von der aktuellen Nachrichtenflut unterschied. Passend war der Zeitpunkt auch, weil gerade die dritte Staffel der beliebten Krimiserie «Der Bestatter» mit Schauspieler Mike Müller lief.
Nicht richtig dazugehören
In «Der Muslim-Bestatter» heisst der Held Enver Fazliji, und er ist Mitinhaber eines muslimischen Bestattungsinstitutes im Kanton Solothurn. Reporter Simon Christen begleitet den 28-Jährigen auf einer Reise in den Kosovo, wohin dieser einen Leichnam zu überführen hat. Fazliji erklärt die Rituale und Vorstellungen, mit denen Menschen muslimischen Glaubens dem Tod begegnen. Wer den «Bestatter» mit Mike Müller kennt, zieht automatisch Vergleiche – und ist vielleicht überrascht, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Bildern liegen, die wir uns machen.
Fazlijis Reise ist zugleich Sinnbild für die Erfahrung unzähliger Menschen, deren Identität in zwei verschiedenen Ländern Wurzeln schlägt: «Man gehört an beiden Orten nicht richtig dazu», stellt der junge Mann beim Tee mit den zurückgebliebenen Verwandten fest. Doch nicht nur dieses Aufeinandertreffen unterschiedlicher Lebenshorizonte reflektiert die Reportage. Als Fazliji etwa darüber nachdenkt, dass im Kosovo ein ganzes Dorf an der Trauer der Angehörigen teilnimmt, während er die Menschen in der Schweiz oft in Einsamkeit Abschied nehmen sieht, kommentiert Christen: «Und so endet diese Geschichte mit der Erkenntnis, dass wir unseren Tod so verbringen, wie wir unser Leben verbracht haben: Die einen für die anderen, und die anderen für sich.»
Reizvolle journalistische Aufgabe
Ein kulturkompetenter und -vermittelnder Journalismus zeichnet sich durch diese Haltung aus: die Bereitschaft sich auf die Perspektive des Gegenübers einzulassen – und vielleicht auch etwas zu lernen von ihr. Das ist aufwendig, und zuweilen auch anstrengend. Doch es lohnt sich, Zeit und Ressourcen darin zu investieren. Denn bei der täglichen Flut an Informationen sind es die persönlichen Zugänge, die uns interessieren, ist es die lebhafte Form der Erzählung, die uns eine komplexe Umwelt am besten verstehen lässt.
Menschen mit Migrationshintergrund haben eine grosse Erfahrung darin, mit den Reibungen zwischen verschiedenen, teils widersprüchlichen Welten umzugehen, Unsicherheiten auszuhalten und kreative Lebensentwürfe zu entwickeln. Das sind Eigenschaften, die in einer globalisierten Welt zunehmend gefragt sein werden. Als Antwort auf die blinde Wut fundamentalistischer Kämpfer sollten wir deshalb beginnen, uns für den Normalfall zu interessieren.