Fast immer lebte Roth in prekären Verhältnissen. Als Journalist führte er ein unstetes Dasein, reiste kreuz und quer durch Europa und lebte in Hotels. Er schrieb die damals beliebten Feuilletons – kurze unterhaltende Beiträge über Gott und die Welt. Daneben verfasste er Romane und hatte 1930 mit "Hiob", der Geschichte jüdischer Auswanderer, seinen ersten grossen Erfolg.
Obwohl sein Name bekannt war und seine Arbeiten gut bezahlt wurden, litt er unter ständiger Geldnot. Er hatte für die Pflege und den Unterhalt seiner psychisch kranken Frau zu sorgen, und seine Neigungen zur Generosität und zur Trunksucht waren kostspielig. Obwohl die Verlage ihm Vorschuss, die Hoteliers Kredit und die Freunde Darlehen gewährten, geriet er immer wieder in finanzielle Bedrängnis; seine Korrespondenzen, seine Klage- und Bittschreiben geben davon bedrückendes Zeugnis.
Die alte Heimat der Monarchie
Der Jude Joseph Roth wurde 1894 in Brody in Ostgalizien geboren, an der äussersten Peripherie der österreichisch-ungarischen Monarchie. Er durchlief Volksschule und Gymnasium mit Auszeichnung und studierte in Lemberg und Wien Geisteswissenschaften. Das Kaiserreich begegnete den Juden damals mit Toleranz und ermöglichte ihnen innerhalb gewisser Grenzen den gesellschaftlichen Aufstieg. „Meine alte Heimat, die Monarchie“, schrieb Joseph Roth später, „war ein grosses Haus mit vielen Türen und Zimmern für viele Arten von Menschen.“
Damit war es nach dem Ersten Weltkrieg und mit dem Zerfall des Kaiserreichs vorbei. Ostgalizien ging in polnischen Besitz über, und Roth verlor den einzigen Flecken Erde, den er je als seine Heimat betrachtete. In Wien wurde der Schriftsteller mit massivem Antisemitismus konfrontiert, der durch die Zuwanderung flüchtender Ostjuden noch verstärkt wurde. Auch war unter Wiener Intellektuellen der Geschichtspessimismus weit verbreitet: Die Monarchie war tot, ihre Paläste waren verwaist, ihre Feste verrauscht. Die neue Republik des Rumpfstaats Österreich genoss kein Vertrauen. Damals schrieb der Schweizer Diplomat Carl J. Burckhardt an seinen Freund, den Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal: „Alles in unserer Generation ist Abschied. Die nächsten werden es schon leichter haben, das beste wird vergessen sein.“ Ähnlich dachte Joseph Roth.
"Keinen Heller für das Leben"
Im Jahre 1920 zog der Schriftsteller nach Berlin, in die Stadt, die damals mit Paris darin wetteiferte, als geistiges Zentrum Europas zu gelten. Als Mitarbeiter und Reiseberichterstatter der Frankfurter Zeitung berichtete er während fast zehn Jahren aus Österreich, der Tschechoslowakei, Polen, Russland, aber auch aus Südfrankreich, Italien und, immer wieder, aus Paris. Die französische Hauptstadt wurde zu seinem wichtigsten Stützpunkt und, nachdem Hitler 1933 in Deutschland die Macht übernommen hatte, zum Ort seines Exils.
Er wohnte im Hotel Foyot beim Jardin du Luxembourg, in dem auch Rilke gelegentlich abgestiegen war und von wo der Schweizer Journalist und Historiker Jean Rudolf von Salis seine Berichte an den "Berner Bund" sandte. Ein politisch militanter Schriftsteller wie Tucholsky oder Ossietzky war Roth nie, obwohl er sich denselben freiheitlichen Werten der französischen Aufklärung verpflichtet fühlte. Er verfolgte den Aufstieg des Faschismus und Nationalsozialismus aufmerksam und erkannte früher als die meisten andern Schriftsteller die verhängnisvolle Rolle, die Hitler sich zu spielen anschickte.
Im Februar 1933 schrieb er an den Kollegen Stefan Zweig: „Inzwischen wird es Ihnen klar sein, dass wir grossen Katastrophen zutreiben. Abgesehen von den privaten – unsere literarische und materielle Existenz ist ja vernichtet – führt das Ganze zum neuen Krieg. Ich gebe keinen Heller mehr für unser Leben. Es ist gelungen, die Barbarei regieren zu lassen.“
Täglicher Existenzkampf
Auch als seine Bücher in Deutschland geächtet und von den Nazis verbrannt wurden, schrieb Joseph Roth weiter für Exilverlage in den Niederlanden. Aus der Hoffnungslosigkeit der Zukunftsaussichten und dem Elend des täglichen Existenzkampfs floh er immer mehr in die Vergangenheit und wurde zu einem entschiedenen Verherrlicher der entschwundenen Donaumonarchie und zu einem Bewunderer des Kaisers Franz Joseph. Die Nachricht vom „Anschluss“ Österreichs im Frühling 1938 war für ihn ein schwerer Schlag.
Gesundheitlich geschwächt und von der Trunksucht zerstört, wurde er zuletzt in ein Pariser Spital verbracht, wo er am 27. Mai 1939 an einer Lungenentzündung starb. An seinem Grab versammelten sich Menschen, die nur ihre Achtung vor dem Verstorbenen und ihr gemeinsames Emigrantenschicksal einte: Katholiken, Juden, Atheisten, Monarchisten, Sozialisten und Kommunisten. „Wie schade“, soll einer der Anwesenden gesagt haben, „dass er dem hier nicht beiwohnen konnte! Genau so würde er es sich erträumt haben. Es fehlte nur der Radetzkymarsch.“
Vorbildliche Gestalt des Grossvaters
Joseph Roths Roman, erschienen 1932, gehört zu den bedeutendsten Monumenten, die je ein Schriftsteller dem Andenken an eine entschwundene Epoche errichtet hat. Der Roman spielt in der Zeit zwischen 1890 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Im Zentrum steht die Figur des Offiziers der k.u.k.- Armee Carl Joseph von Trotta. Der Grossvater dieses Mannes ist dadurch in die Geschichte eingegangen, dass er in der Schlacht bei Solferino (1859) dem Kaiser Franz Joseph das Leben rettete. Der Sohn dieses Helden, Franz Freiherr von Trotta, Bezirkshauptmann irgendwo in der mährischen Provinz, setzt alles daran, sich seines berühmten Vaters würdig zu erweisen.
Er verkörpert den Typus des integren, etwas steifen Beamten der Monarchie, der sich bei allem, was er tut, bewusst bleibt, als Repräsentant der Apostolischen Majestät des Kaisers zu handeln. Auch dessen Sohn, der Enkel des Helden von Solferino Carl Joseph, fühlt sich der vorbildlichen Gestalt seines Grossvaters tief verpflichtet. Streng wacht der Bezirkshauptmann über die Ausbildung dieses Sohnes, der die Kavalleriekadettenschule besucht und eine Offizierslaufbahn antritt.
Armut und Schande
Der Radetzkymarsch ist kein Gesellschafts-, sondern ein Bildungsroman. Im Zentrum steht Carl Joseph, und die übrigen Figuren sind vor allem wichtig durch ihre Beziehung zu ihm. Der Autor schildert den Lebensweg seines Helden, indem er einzelne für dessen Schicksal bestimmende Episoden herausgreift. Wir erfahren, wie der junge Trotta von der Frau des Wachtmeisters Slama in die Liebe eingeführt wird. Wir folgen dem jungen Leutnant ins Kasino und lernen die Offiziere seines Regiments und den jüdischen Regimentsarzt Demant kennen, der zu seinem besten Freund wird.
Trotta, der mehr und mehr am Sinn seiner Laufbahn zweifelt, lässt sich zu einem Jägerbataillon in einen kleinen, öden Ort an der russischen Grenze versetzen, wo sich die Offiziere dem Glückspiel und der Trunksucht hingeben. Wir begleiten ihn auf seinen häufigen Reisen nach Wien, wo er sich dem kostspieligen Vergnügen hingibt, die schöne, nicht mehr ganz junge Frau von Taussig auszuführen. Wir leiden mit, wenn wir sehen, wie der Leutnant Trotta sich schwer verschuldet und in die Fänge des skrupellosen Wucherers Kapturak gerät, und wir atmen auf, wenn wir erfahren, dass die persönliche Intervention seines Vaters beim Kaiser den Sohn vor Armut und Schande bewahrt.
Ermordung des Thronfolgers
Gegen Schluss des Romans bricht die Geschichte jäh in das Alltagsgeschehen ein. Wir wohnen einem rauschenden Sommerfest bei, das der reiche polnische Gutsbesitzer Chojnicki geladenen Gästen und Offizieren gibt. Da trifft ein berittener Kurier mit der Schreckensnachricht ein, der Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand sei in Sarajewo ermordet worden. Die Szene, von Joseph Roth meisterhaft dargestellt, gehört zu den unvergesslichsten des Romans: „Trotta wandte sich zur Tür. In diesem Augenblick wurde sie aufgestossen. Viele Gäste strömten herein, Konfetti und Papierschlangen auf Köpfen und Schultern. Die Tür blieb offen. Man hörte aus den andern Räumen die Frauen lachen und die Musik und die schleifenden Schritte der Tänzer. Jemand rief: ‚Der Thronfolger ist ermordet.'“ Carl Joseph Trotta fasst den Entschluss, aus der Armee auszutreten, kehrt aber nach Kriegsausbruch wieder zu seinem Bataillon zurück und fällt beim ersten Gefecht.
Der Radetzkymarsch ist beides: der bunte Bilderbogen eines bewegten Lebens und die Chronik des Niedergangs einer Welt. Omnipräsent sind in diesem Roman die Zeichen, die auf Vergänglichkeit, Zerfall und Tod hindeuten. Dem Vater von Carl Joseph, dem Bezirkshauptmann, gelingt es noch einigermassen, dem Vorbild des Helden von Solferino nachzuleben; aber er wird von Roth als eine Endfigur charakterisiert, welche ihren amtlichen Obliegenheiten mit trockener Pedanterie nachkommt, aber ausserstande ist, in der sozialen Unrast der Massen etwas anderes als Unbotmässigkeit gegenüber der Obrigkeit zu sehen.
Geschichtspessimismus und Endzeitbewusstsein
Auch Kaiser Franz Joseph, gegen neunzig Jahre alt, ist eine Endfigur. Der Kaiser wird von Roth als liebenswürdiger und gütiger Patriarch geschildert, ganz der Tradition verhaftet, jeder Reform abhold. „Er sah die Sonne in seinem Reiche untergehen“, schreibt Roth, „aber er sagte nichts. Er wusste, dass er vor ihrem Untergang noch sterben werde.“ Carl Joseph von Trotta spürt sehr früh, dass er der Last seines Berufs nicht gewachsen ist. Mit seinem Freund, dem Regimentsarzt Demant, der in einem sinnlosen Duell stirbt, teilt er die Überzeugung, dass die Monarchie am Ende ist. Er weiss, dass er sie nicht retten kann, dass er vielmehr eine der vielen Ursachen ihres Niedergangs ist.
“Es bedrängte ihn unsäglich“, schreibt Roth, „dass er ein Werkzeug in der Hand des Unglücks war.“ Am stärksten geprägt von Geschichtspessimismus und Endzeitbewusstsein ist der polnische Graf und Reichstagabgeordnete Chojnicki, ein kluger Zyniker, der sich freundschaftlich zu Trotta hingezogen fühlt. „Dieses Reich muss untergehen“, lässt ihn Joseph Roth sagen, „sobald unser Kaiser die Augen schliesst, zerfallen wir in hundert Stücke.“
Der Radetzkymarsch ist die Chronik eines staatlichen Zusammenbruchs, Fiktion, gewiss, aber als solche auch Teil der Realität. Für Joseph Roth, den Autor, war der Radetzkymarsch die Geschichte einer für immer verlorenen Liebe, der nur durch die Kunst Dauer zu verleihen war. In dem Vorwort, das Joseph Roth dem Vorabdruck seines Romans in der Frankfurter Zeitung vorausschickte, schrieb er: „Ein grausamer Wille hat mein altes Vaterland, die österreichisch-ungarische Monarchie, zertrümmert. Ich habe es geliebt, dieses Vaterland, das mir erlaubte, ein Patriot und ein Weltbürger zugleich zu sein, ein Österreicher und ein Deutscher unter allen österreichischen Völkern.“