Die Geschichte des europäischen Kolonialismus kennt viele Untaten und Verbrechen; aber selten ist ein Land in so kurzer Zeit so rücksichtslos ausgeraubt worden wie der „Freistaat“ Belgisch-Kongo zwischen 1885 und 1908. Das riesige Gebiet im Herzen Afrikas war eine Privatkolonie des Königs Leopold II., des ehrgeizigsten und gierigsten Imperialisten seiner Zeit. Das Land lieferte zuerst Elfenbein, dann in grossen Mengen den begehrten Naturkautschuk, der für die Reifenherstellung verwendet wurde. Die einheimische Bevölkerung wurde zur Zwangsarbeit herangezogen, um Zugangswege durch den Urwald freizulegen, Bahnlinien zu bauen und Plantagen zu errichten. Wenn sich die Schwarzen den Anweisungen der weissen Handelsherren nicht fügten, wurden ihre Dörfer niedergebrannt; es wurden Geiseln genommen und Menschen gefoltert und massakriert. Man schätzt, dass zwischen 1885 und 1908 zehn Millionen Afrikaner umgekommen sind – gleichviel Opfer, wie der Erste Weltkrieg sie forderte.
Mit dem Erlös der Kolonie wurden die Prunkbauten des Fin de siècle errichtet, die Brüssel heute schmücken. Der Rechtfertigung des brutalen Vorgehens diente eine Ideologie, welche philanthropische und wissenschaftliche Motive wie die Zivilisierung der „Wilden“ und die Erkundung des Landes in den Vordergrund stellte. Lange blieb die Kolonialverwaltung rudimentär, da die weissen Händler und Söldner keine Lust verspürten, sich dauernd hier niederzulassen. Im Jahre 1904 wurden die gravierenden Missstände publik, als der englische Diplomat Roger Casement einen Rapport über den „Freistaat“ Belgisch-Kongo veröffentlichte. Doch die Verhältnisse verbesserten sich erst dann etwas, als die Verwaltung der Kolonie durch den belgischen Staat übernommen wurde.
„Wenn ich gross bin, gehe ich nach Afrika“
Im Jahre 1902 erschien Joseph Conrads Roman „Herz der Finsternis“, dessen Handlung, ohne dass dies explizit gesagt wird, erkennbar in Belgisch-Kongo spielt. Der Autor kannte diesen Teil Afrikas aus eigener Erfahrung, und er konnte sich bei der Niederschrift auf sein Reisetagebuch stützen. Das Buch gehört zu den bekanntesten und meistinterpretierten des Schriftstellers und zu den wichtigsten Zeugnissen, die wir zum Zeitalter des Imperialismus besitzen.
Joseph Conrad wurde 1857 als Jozef Teodor Konrad Korzeniowski in Berdychiv westlich von Kiew, im damaligen Polen, geboren. Sein Vater studierte in Petersburg, arbeitete als Schriftsteller, Redaktor und Übersetzer und setzte sich für die Unabhängigkeit Polens von Russland ein, was ihm eine Haftstrafe eintrug. Nach dem frühen Tod des Vaters kümmerte sich ein Onkel um die Erziehung des begabten Jungen. Trotz häufigen Ortswechseln und unterbrochener Schulbildung lernte Joseph Conrad rasch und las früh in polnischer und französischer Sprache klassische Literatur und Werke zur Geographie und Seefahrt. Er sei neunjährig gewesen, schreibt er in einer autobiografischen Skizze, als ihm bei der Betrachtung einer Afrika-Karte die weissen, unerforschten Flecken im Innern des Kontinents aufgefallen wären, und bereits damals habe er mit Bestimmtheit geäussert: „Wenn ich gross bin, gehe ich dorthin.“ Im Alter von 17 Jahren unternahm er in Begleitung eines Tutors eine Reise in die Schweiz, von der wenig mehr bekannt ist, als dass er die Baustelle des Gotthardtunnels besichtigte.
Wie D.H. Lawrence und James Joyce
Ein Jahr später, 1874, reiste Conrad nach Marseille und unternahm, zuerst als Passagier, dann als Schiffsjunge und Steward mehrere Reisen in die Karibik. In Marseille scheint er in schlechte Gesellschaft geraten zu sein und sich verschuldet zu haben. Er versuchte, sich das Leben zu nehmen und trat dann in die englische Marine über. Seine erste grosse Reise führte ihn an Bord der „Duke of Sutherland“ von London nach Sydney. In den folgenden Jahren bereiste er, die seemännische Karriereleiter bis zum Kapitän emporsteigend, vor allem den Malayischen Archipel und den Indischen Ozean. Er überstand gefährliche Abenteuer und begegnete interessanten Menschen – Stoff genug für ein literarisches Œuvre, dessen Handlung meist in Übersee spielt.
Joseph Conrads Romangestalten sind oft Aussenseiter, oder sie werden es, aus irgendeinem akzidentellen Anlass, im Verlauf der Handlung. Sie haben die Wertvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft ihrer Zeit aufgegeben und sind zu Zivilisationsflüchtlingen geworden, die im Niemandsland zwischen angestammter und fremder Kultur leben. Dies gilt etwa von der Titelfigur von Conrads Erstlingsroman „Almayer′s Folly“, einem holländischen Kaufmann, und es gilt auch vom Helden von Conrads bekanntestem Roman „Lord Jim“. Joseph Conrad zählt zu den wichtigsten Autoren der neueren englischen Literatur. Kenner stellen ihn neben D.H. Lawrence und James Joyce, was umso erstaunlicher ist, wenn man bedenkt, dass er sein Œuvre nicht in der Muttersprache verfasste.
„Die Eroberung der Erde ist keine schöne Sache“
„Herz der Finsternis“ ist eine Rahmenerzählung. Es ist der erfahrene Kapitän Marlowe, der seinen Freunden an Bord einer Hochseeyacht, die am Unterlauf der Themse ankert, die Geschichte seiner Kongoreise zum Besten gibt. Marlowe erzählt davon, wie er von der belgischen Handelskompanie den Auftrag bekommen hat, mit einem Dampfer den Kongo-Fluss hinaufzufahren und die unterbrochene Verbindung mit einem Agenten der Kompanie, dem geheimnisvollen Elfenbeinhändler Kurtz aufzunehmen. Über die Fragwürdigkeit des Kolonialismus und die Verlogenheit ihrer zivilisatorischen Begründung gibt sich Marlowe keinen Illusionen hin. „Die Eroberung der Erde“, sagt er, „die meist nichts anderes bedeutet, als sie denen wegzunehmen, deren Haut eine andere Farbe hat oder deren Nase flacher ist als unsere eigene, ist keine schöne Sache, wenn man genau hinsieht.“
Schon auf der Hinfahrt zur Kongo-Mündung ereignet es sich, wie oft in diesem Roman, dass der Realität etwas Unwirkliches, Absurdes anhaftet. Man begegnet einem französischen Kriegsschiff, das seine Kanonen anscheinend grundlos gegen eine unbewohnte Küste abfeuert. „In der Unternehmung“, schreibt Conrad, „lag eine Spur von Wahnsinn, in ihrem Anblick ein Hauch von kläglicher Komik, und diese Wahrnehmung wurde auch nicht zerstreut, als mir jemand an Bord ernsthaft versicherte, dort draussen gebe es ein Lager von Eingeborenen – er nannte sie Feinde! -, die sich irgendwo ausser Sichtweite verbargen.“
Eine Reise zurück in die Geschichte
Auf der Reise flussaufwärts trifft Marlowe auf ausgezehrte und dem Tod geweihte schwarze Zwangsarbeiter, aber auch, mit diesem Bild grotesk kontrastierend, auf den Prokuristen der Handelsgesellschaft, einen elegant gekleideten Mann mit dem Federhalter hinter dem Ohr. Von ihm hört er zuerst vom Elfenbeinhändler Kurtz, einem sehr fähigen „Agenten Erster Klasse“, der seinen Weg machen werde. Zu Land und zu Wasser stösst Marlowe landeinwärts vor, eskortiert von Eingeborenen, vorbei an Leichen und Spuren der Zerstörung, begleitet vom dumpfen Klang der Urwaldtrommeln.
Durch die Angestellten der Handelskompagnie erfährt er immer wieder merkwürdig Unbestimmtes über Kurtz und sieht der Begegnung mit ihm voller Spannung entgegen. „Er ist“, sagt ihm ein Angestellter, „ein Phänomen. Er ist der Sendbote der Menschenliebe, der Wissenschaft, des Fortschritts, und, weiss der Teufel, wovon noch.“ Immer weiter dringt Marlowe ins Innere vor. Es wird eine Reise zurück in die Geschichte und zugleich zurück ins eigene Innere. „Den Fluss hinaufzufahren war“, erzählt er seinen Freunden, „als reiste man zurück zu den frühesten Anfängen der Welt.“
„Das Grauen, das Grauen“
Schliesslich trifft Marlowe auf den völlig entkräfteten, dem Tod geweihten Kurtz und vernimmt von einem russischen Händler Einzelheiten zu dessen Leben. Kurtz sei, erfährt er, voller Idealismus nach Afrika gezogen. Doch dann habe sich Ungeheuerliches ereignet. Kurtz sei, von der Gier nach Elfenbein getrieben, mordend und raubend durchs Land gezogen, er habe sich dunklen Leidenschaften ausgeliefert, an den orgiastischen Ritualen der Eingeborenen beteiligt und zu einem wie Gott verehrten Führer aufgeschwungen. Marlowe kann sich der Faszination, die Kurtz auf ihn ausübt, nicht entziehen und empfindet eine geheimnisvoll lockende innere Verwandtschaft zu jenen Wilden, denen Kurtz verfallen ist. Er gelangt bis an jene äusserste Grenze menschlicher Existenz, die Kurtz überschritten hat. Er erlebt, wie Kurtz stirbt und hört ihn seine letzten Worte sprechen: „Das Grauen! Das Grauen!“
Krank kehrt Marlowe nach Europa zurück. Die europäischen Stadtbewohner, ihr Denken und Trachten, sind ihm fremd geworden. Er sucht die Verlobte von Kurtz auf, übergibt ihr ein Bündel mit Briefen aus dessen Nachlass. Auf die Frage der Frau, welches die letzten Worte von Kurtz gewesen seien, wagt Marlowe nicht die Wahrheit zu sagen: „Das letzte Wort“, lügt er, „das er aussprach, war Ihr Name.“
„Apocalypse Now“
Hier endet der Erzähler. Marlowe hat nicht nur die Geschichte von Kurtz erzählt, sondern auch seine eigene. Wie oft in den Romanen von Joseph Conrad ist die Hauptfigur eine vielschichtige und widersprüchliche Persönlichkeit, die nicht in Schwarz-Weiss-Manier porträtiert werden kann – immer bleibt ein Rest von Geheimnis. Kein Wunder, dass der Roman, der zu der Zeit entstand, da Sigmund Freud in Wien seine Psychoanalyse entwickelte, immer wieder psychologisch gedeutet worden ist. Afrikanische Autoren haben sich von Conrad beeinflussen lassen, haben ihn aber auch kritisch gesehen und ihm, wie etwa der Nigerianer Chinua Achebe, sogar Rassismus vorgeworfen. Mehrmals haben sich Filmemacher von Conrad anregen lassen, so Francis Coppola im Film „Apocalypse Now“, der nicht in Afrika, sondern in Vietnam spielt. Auch ist Conrads Roman in andern literarischen Werken gleichsam fortgeschrieben worden, am eindrücklichsten wohl in Graham Greenes „The Heart oft he Matter“, dessen Titel als eine Reverenz an Conrad zu verstehen ist.
Für den Historiker bleibt „Heart of Darkness“ ein ausserordentliches Dokument. Als das Buch entstand, befand sich der Imperialismus in seiner Blüte. Kapital, Technik und Know how strebten danach, in Übersee gewinnbringend eingesetzt zu werden: „Die Zivilisation“, schrieb der englische Kolonialpropagandist James A. Froude damals, „schreitet voran mit der Geschwindigkeit der Eisenbahn.“ Die Berichte von Reisenden aus Afrika stiessen auf breites Interesse, und Entdecker wie Stanley und Livingstone waren so bekannt wie die Astronauten Gagarin und Armstrong hundert Jahre später. Intellektuelle, die damals nicht nur die Ausbeutung der Kolonien und die Fragwürdigkeit des Zivilisierungsideologie zu kritisieren wagten, sondern auch auf das Risiko hinwiesen, das der Kolonisator im Kontakt mit den Fremdkulturen einging, bildeten eine verschwindende Minderheit. Joseph Conrad gehörte zu diesen Intellektuellen.