Der junge Staat östlich des Jordans prosperiert und ist im aufgewühlten Nahen Osten eine Insel der politischen Ruhe. Doch Jordanien benötigt dauerhaft Wohlwollen und viel Geld vom Westen sowie von arabischen Schwergewichten und vollzieht einen permanenten Drahtseilakt.
Die israelkritischen Töne in Jordanien werden lauter, die Worte härter: König Abdullah sagte an einem Gipfeltreffen arabischer Staaten in Kairo, Israel begehe im Gazastreifen «ein Kriegsverbrechen». Der jordanische Aussenminister, Aiman Safadi, doppelte vor wenigen Tagen, bei einem Treffen des International Institute of Strategic Studies nach: «Die Verweigerung von Nahrungsmitteln, Treibstoff und Medikamenten für die Bevölkerung Gazas durch Israel darf von der internationalen Gemeinschaft, vom Westen, nicht einfach so hingenommen werden. Jedes andere Land würde, in einem solchen Fall, mit Sanktionen bestraft.» Und er fügte wütend an die Adresse der israelischen Regierung an: «Also, dann tut eben, was ihr wollt, zerstört Gaza, es hält euch ja niemand auf. Aber wenn ihr glaubt, dass wir, die Araber, danach wieder alles in Ordnung bringen, dann täuscht ihr euch.»
Wenn der jordanische Monarch, wenn ein Mitglied seiner Regierung derart harte Worte wählt, so besagt das: Jordaniens politische Führung ist derart unter Druck, dass sie sich genötigt fühlt, ihre traditionelle diplomatische Zurückhaltung über Bord zu werfen. Denn das Land ist abhängig von Geldern aus dem Westen und sollte sich deshalb davor hüten, in seiner Politik allzu weit vom Mainstream Europas und der USA abzuweichen – sonst könnten in Washington ein paar Senatoren auf die Idee kommen, die jährlichen Zuwendungen von 1,3 Milliarden pro Jahr in Frage zu stellen. Die betreffende Summe erhält Jordanien ja als «Belohnung» für den mit Israel im Jahr 1994 geschlossenen «Frieden».
Man muss den Ausdruck in Anführungszeichen setzen, denn die Beziehungen zwischen Amman und Jerusalem sind schon seit langem kalt, und als Israel, als Reaktion auf den Hamas-Massenmord vom 7. Oktober, mit der Bombardierung Gazas und danach auch noch mit der Bodenoffensive begann, kühlten sie noch tiefer ab. Auch aus Europa erhält Jordanien Geld, rund 500 Millionen Euro von der EU, und auch diese «Spende» könnte in Frage gestellt werden, sollte das Land sich von seiner gemässigten aussenpolitischen Linie entfernen.
Jordanien befindet sich zwischen Hammer und Amboss, zwischen der Abhängigkeit von westlichem Goodwill und der Forderung anderer arabischer Regierungen, sich in den Mainstream der Israel-Kritik einzufügen. Auch aus den Schatullen von Ländern wie Saudiarabien oder den Vereinigten Arabischen Emiraten alimentiert sich Jordanien ja ständig – konkret: Tauchen am Ende eines Fiskaljahrs Lücken im jordanischen Haushalt auf, stopfen die reichen Vettern aus der näheren und ferneren Nachbarschaft sie routinemässig.
Der Amboss ist aber noch härter: Die Führung Jordaniens sollte sich nie allzu eklatant in eine Gegenposition zur Mehrheitsstimmung der Bevölkerung bringen, was konkret heisst: Sie muss beachten, was die Palästinenser im eigenen Land fordern.
Die Mehrheit der Menschen in Jordanien sind Palästinenser oder haben familiär palästinensische Wurzeln. Offiziell sind das rund dreissig Prozent (von rund elf Millionen), aber es gibt seit langem keine Zählung mehr, und alle nicht von der Regierung gesponsorten Recherchen weisen darauf hin, dass es derzeit in der Wirklichkeit mehr als fünfzig Prozent sind.
Starkes palästinensisches Element
Nun ist «Palästinenser» im Kontext Jordaniens ein recht komplexer Begriff. Er kann bedeuten: Angehöriger einer Familie von Flüchtlingen als Resultat des Kriegs aus der Zeit der Gründung des Staates Israel (1948/49) oder des Sechstagekriegs von 1967. Er kann aber auch beinhalten: Mitglied einer Familie der palästinensischen Oberschicht, das nicht als Flüchtling aus dem Westjordanland nach Jordanien, östlich des Jordans, umgezogen ist, sondern, beispielsweise, aus geschäftlichen Gründen. Rania, Ehefrau des jordanischen Monarchen (sie trägt sogar den offiziellen Titel einer Königin) entstammt einer solchen Familie.
Und sie ist keine Ausnahme. Das erfährt man, wenn man sich mit der Zeitgeschichte des Landes befasst, also auch mit den Jahren noch in der Zeit von Abdallahs Vater, Hussein, Herrscher von 1952 bis zu seinem Tod im Jahr 1999. Hussein wechselte die Mitglieder der Regierung oft sehr häufig aus – nicht, weil er die einen oder anderen Minister für unfähig gehalten hätte, sondern, weil er die Zeit für reif sah, jeweils das Mitglied einer anderen Familie (man könnte auch sagen: eines anderen Clans) in eine hohe Position zu befördern. Alle wichtigen Palästinenserfamilien mussten von Zeit zu Zeit berücksichtigt werden.
Hussein achtete auch darauf, ein Gleichgewicht zwischen alteingesessenen jordanischen Clans, wichtigen Beduinenfamilien und Palästinensern aus der Oberschicht zu finden oder zu wahren. Ein auf das Land spezialisierter Publizist wies nach, dass König Hussein, recht konsequent, in seiner langen Herrschaftszeit immer wieder 53 palästinensische Familien berücksichtigte. So hielt er sein Reich «in Ordnung». Gab es Proteste (Unruhen wegen gestiegener Brotpreise oder tiefer Löhne in der Phosphatindustrie etwa), so waren sie das Resultat von Unzufriedenheit der unteren Schichten und allenfalls bei den palästinensischen Flüchtlingen.
Mit den palästinensischen Flüchtlingen ging Jordanien, verglichen mit anderen arabischen Ländern, tolerant, aber auch etwas willkürlich um. Viele erhielten die jordanische Staatsbürgerschaft, andere nicht – und blieben daher (bleiben es bis heute) Flüchtlinge. Es gibt in Jordanien zwar keine von aussen als solche erkennbaren Flüchtlingslager mehr. Aus ihnen wurden eng und immer enger bebaute Stadtviertel, vor allem in Amman. Aber wer dort lebt, kann sich nicht gleichberechtigt fühlen mit jenen, die das Privileg erhalten haben, einen jordanischen Pass zu besitzen.
Ein Staat, der über seine Verhältnisse lebt
Die innerjordanische Ruhe allerdings bleibt gefährdet, auch wenn der König und seine Minister mit grossem Geschick den Drahtseilakt zwischen den Erwartungen des Westens einerseits (möglichst geringe Spannungen mit Israel) und jenen der arabischen Regierungen plus der palästinensischen Bevölkerung im eigenen Land anderseits bisher meisterlich bewältigt hat. Die Ruhe ist gefährdet, weil Jordanien von Jahr zu Jahr noch mehr über die eigenen Verhältnisse lebt, das heisst: weil dadurch die Abhängigkeit vom Goodwill anderer ständig grösser wird.
Weshalb? Rund die Hälfte der Erwerbstätigen erhält den Lohn vom Staat, und von diesem Staat wird soziales Bewusstsein in einer Grössenordnung erwartet, die alles übersteigt, was wir uns in Westeuropa vorstellen können. Ich kenne Jordanier, die nur deshalb keine Prämien für die Krankenkasse zahlen, weil ihre Schwester bei der Polizei angestellt ist. Der Betreffende wird sogar, dank der Arbeit der Schwester, eines Tages eine staatliche Pension erhalten. Und nicht nur er, sondern auch alle weiteren Angehörigen der weitverzweigten Familie. Das führt automatisch (das Bevölkerungswachstum in Jordanien beträgt zwar nur 1,23 Prozent) dazu, dass der Staat von Jahr zu Jahr noch gewaltigere Summen für das Soziale ausgeben muss.
Nun wirkt das alles vielleicht so, als sei dieses Land am Rand einer Krise. Sichtbar aber ist davon nichts, im Gegenteil: Amman boomt. Immer mehr pompöse Hotels und Einkaufszentren werden hochgezogen, und in bestimmten Stadtvierteln spriessen die Luxusvillen in den letzten Jahren nur so aus dem Boden. Weshalb?
Erstens flossen Milliardensummen aus dem libanesischen Beirut herüber nach Amman. Teils kamen sie (kommen sie wohl weiterhin) aus libanesischen Quellen (manche Grossinvestoren betrachten die libanesische Hauptstadt, ja den ganzen Staat Libanon, als risikoreich, Jordanien aber als sicher).
Zweitens brachten Iraker, die sich in ihrem Land nicht mehr wohlfühlten, viel Geld mit (zu viele Unruhen nach dem von den USA provozierten Krieg, zu wenig Sicherheitsgarantien vonseiten der irakischen Regierung auch jetzt noch).
Und drittens liess auch der De-facto-Herrscher Saudiarabiens, Mohammed bin Salman, zig Milliarden nach Amman transferieren. So wurde die jordanische Hauptstadt zu einem grossen Finanzzentrum in der Region. Wer immer sein Geld dort gelagert hat, der erwartet auch eine gewisse politische Stabilität. So entstand dieser gemeinsame Nenner in Nahost: ein Jordanien, das allen nützlich ist.
Das setzt aber eine gewisse innere Stabilität voraus – was konkret heisst: Jordanien muss vermeiden, dass der Konflikt aus seiner Nachbarschaft, also der Konflikt Israels mit den Palästinensern, überschwappt. Jordanien muss sich abschotten gegen denkbare neue Flüchtlingswellen (abgesehen von den Palästinensern hat das Land ja zurzeit fast eine Million Flüchtlinge aus Syrien), denn die würden die jetzige labile Stabilität erschüttern. Der zu Beginn zitierte jordanische Aussenminister drückte es klar und deutlich aus: Jordanien kann nicht, wird nicht akzeptieren, dass Israel sein Gazaproblem so löst, dass Flüchtlinge genötigt werden, nach Jordanien zu ziehen.