Nach der bisher recht erfolglosen Gegenoffensive rechnet nun die ukrainische Armee mit einem «schnelleren Vormarsch». Dies erklärt die stellvertretende ukrainische Verteidigungsministerin Hanna Maljar am Montag. Ein baldiger Erfolg der ukrainischen Streitkräfte ist dringend nötig. Bleibt er aus, droht die westliche Unterstützung für die Ukraine zu erlahmen.
Weitere Gebiete an der Ostfront östlich von Bachmut seien zurückerobert worden, schrieb Maljar auf Telegram. Zudem sei die ukrainische Armee weiter nach Süden vorgestossen und habe die Dörfer Novodanylivka (nördlich von Robotyne) und Novoprokopivka (südlich von Robotyne) besetzt. Beim Dörfchen Robotyne war schon vor einigen Tagen die erste stark befestigte russische Verteidigungslinie durchbrochen worden.
Seit Beginn der Gegenoffensive Anfang Juni habe die Ukraine nun rund 47 Quadratkilometer Territorium rund um Bachmut zurückerobert, schrieb Maljar weiter.
Diese Erfolgsmeldungen sind Balsam auf die geschundene ukrainische Seele. Endlich einige Erfolgsmeldungen, nachdem die lange angekündigte und mit Hoffnung bestückte ukrainische Gegenoffensive kaum vorankam – trotz immenser westlicher Waffenlieferungen.
Nicht überbewerten
Doch diese Erfolgsmeldungen dürfen nicht überbewertet werden. Selbst wenn die Minenfelder und Gräben der ersten Verteidigungslinie überwunden sind, gibt es eine zweite und eine dritte und nach Angaben russischer Militärblogger sogar eine vierte und fünfte Verteidigungslinie. Die Russen hatten monatelang Zeit, sich auf eine Gegenoffensive vorzubereiten und sich einzugraben. Weite Teile der Südukraine sind vermint. Die ukrainischen Angriffe finden im offenen, flachen Feld statt. Die angreifenden Soldaten sind der russischen Artillerie und den russischen Kampfflugzeugen fast schutzlos ausgesetzt.
Ukrainische Aufklärungsdrohnen werden abgefangen oder gar umgeleitet, ihre Signale werden gestört. Störsender, die die Russen aufgebaut haben, erschweren die Koordination der ukrainischen Angriffe.
90 Kilometer bis zum Meer
Ziel der Ukraine ist es, von Robotyne aus über Tokmak bis zum Asowschen Meer vorzudringen. Das sind knapp 90 Kilometer. So soll ein Keil zwischen das russische Herrschaftsgebiet im Osten und im Westen getrieben werden. Doch der mit Minen bestückte Weg zum Asowschen Meer ist noch weit. Viele ukrainische Soldaten werden dort noch sterben.
Der ukrainischen Armeeführung wird vorgeworfen, sich allzu lange Zeit zur Gegenoffensive genommen zu haben. Das habe den Russen ermöglicht, ihre Verteidigungsfestungen auszubauen und zu perfektionieren. Zudem fehlte das bei Gegenoffensiven so wichtige Überraschungselement. Doch die ukrainische Armee war eben noch nicht zu einem grossen Gegenschlag bereit. Vor allem fehlten auch westliche Waffen.
Erlahmender Enthusiasmus
Die Ukraine braucht jetzt dringend einen Erfolg. Im Westen droht der Ukraine-Enthusiasmus zu erlahmen. Darauf hat Putin schon lange gesetzt. Die Ukraine braucht schnell weitere Waffen, Artillerie, Kampfflugzeuge, Panzer. Kann die Ukraine aber vor dem Winter keine wirklichen Erfolge erzielen, ist die westliche Bereitschaft zu weiteren Waffenlieferungen beschränkt.
Auch in den USA – ein gutes Jahr vor der Präsidentschaftswahl – hat Präsident Biden zunehmend Mühe, weitere Milliarden für die Ukraine locker zu machen. Bei den Republikanern sind Waffenlieferungen an die ukrainischen Streitkräfte ohnehin wenig populär. Zudem droht der Ukraine auch einer der wenigen wichtigen republikanischen Fürsprecher abhanden zu kommen. Der einflussreiche republikanische Senator Mitch McConnell, ein überzeugter Befürworter der militärischen Ukraine-Hilfe, kämpft mit gesundheitlichen Problemen.
Trumps Kehrtwende
Nur dem Erfolgreichen wird gegeben. Dem Verlierer wird genommen. Dieses Diktum könnte nun auch im Ukrainekrieg gelten. Gelingt es den Ukrainern nicht bald, nach Süden vorzustossen, werden sich wohl viele im Westen fragen, ob sich eine weitere westliche Unterstützung noch lohnt.
Dann wird der Krieg wohl weitergehen. Putin wird sicher nicht nachgeben. Das erlaubt sein Ego nicht. Doch auf Trump kann der Kreml-Herrscher nicht mehr bauen. Nachdem sich der Ex-Präsident zunächst auf die Seite Russlands gestellt hatte, vollzog er nun eine Kehrtwende und fordert, Russland direkt anzugreifen. «Bomb the Shit out of Russia», sagte er laut der Washington Post.
«Frozen conflict»
Nicht nur Putin, auch die Ukraine wird sich wohl nicht geschlagen geben. Die Wut auf Russland ist in den letzten Monaten stark gewachsen. So treibt der Krieg wohl zu einem «eingefrorenen Konflikt» hin. Vorteile solcher «frozen conflicts» ist es, dass niemand eine Niederlage eingestehen muss und dass beide Seiten das Gesicht nicht verlieren.
Putin wird hoffen, dass der Westen nach einigen Monaten oder Jahren die Ukraine dann doch fallen lässt. Und Kiew wird hoffen, dass Putin eines Tage dann doch verschwindet – wie auch immer.