Die Aufregung um einen momentan abtrudelnden politischen Aufsteiger wird sich legen. Bleibt weiterhin: der Duft vorm Fenster bei Marcel Proust, von einem Flieder, der vor 500 Jahren aus Konstantinopel kam (siehe weiter unten).
Plagiatvorfälle gewinnen ihre Konturen durch eine neue Art des Lesens: Es geht nicht mehr um Inhalte, vielmehr um das argwöhnische oder auch feixende Abgleichen von Übereinstimmungen. Vor einem Jahr beim literarischen Erstlingstext («Axolotl Roadkill») einer 18-Jährigen, nun eben bei der schon angejahrten Dissertation des deutschen Verteidigungsministers.
Von den Theologen zu den Suchmaschinen
Die Technik selber ist nicht ganz frisch: Theologen haben sie erfunden, im aufklärerischen Bemühen, in den Bibeltexten jene Quellen kritisch zu sondern, die möglichst nah an einen vorgestellten Ursprung der Überlieferung führen sollten. Dazu waren Sprachkenntnisse von Aramäisch bis Latein unabdingbar und eine gewisse eigene Findigkeit; einer musste auf die Idee kommen, dass z. B. der Unterschied im verwendeten Gottesnamens (Jahwe/Elohim) ein Indiz für getrennt verlaufene Tradition sein könnte. Oder man glich die Evangelien danach ab, ob sie im Osterbericht das leere Grab erwähnten.
Die Quellenkritiker der Jetztzeit machen es sich, dank Google, einfacher: sie geben digitale Texte ein, deren Schreiber bekannt sind, die Suchmaschinen besorgen den Rest und finden die ursprünglichen Autoren. Es werden auch geheimnisvolle «Plagiatsoftwares» erwähnt, sie sind bereits ein Zuverdienst der digitalen Liferanten. Kenntlich wird auf diesem schlichten Weg aber nur, was zufällig digital im Netz zugänglich ist.
Sollte der Abgeordnete zu Guttenberg so fleißig gewesen sein, aus einem nur auf Papier gedruckten Text etwas abgeschrieben zu haben, dann dauert die Wahrheitsfindung noch etwas länger. Man hört den Wind der Geschichte: deren Engel wird – wenn die mondialen Einscannprojekte beendet sind – ins Mosaik aus vielen hundert Millionen Seiten Text schauen.
Copy-Paste-Hipphopp-Kultur
Die Häme um Guttenberg gilt nicht nur einem Politiker, dessen Tricksereien für TV-Kameras schon länger beargwöhnt und nun im Print verortet werden. Die neue fassbare Zunft der Plagiatsforscher, vom Schwarm der Sesselfurzer in den Wohnzimmern bis zu Lehrstuhlinhabern an Medienzentren, sind aber selbst Teilnehmer jener Copy-Paste-Hipphopp-Kultur, die sie anprangern. Sie besorgen in ihrem heißen Bemühen um die Unversehrtheit des Urheberrechts, ob sie es wollen oder nicht, nebenbei noch ein ganz anderes Geschäft: das der deutschen Medienkonzerne, die von der Regierung Merkel/Guttenberg gern das „Leistungsschutzrecht“ verschärfen lassen wollen, um bei sinkenden Umsätzen einmal gekaufte Texte Satz für Satz ad ultimum zahlpflichtig zu halten.
Der Skandal – es ist ein Theater, mehr nicht – hat viele Facetten. Wie einem Abgeordneten noch 2007 die technische Phantasie dafür fehlen kann, dass die Spur seiner druckgestützten Tricksereien im Netz lesbar bleiben würde, bleibt eine besonders hübsche. Nur halb so lustig: dass die akademischen Prüfmechanismen versagten und es vier Jahre dauerte, bis jemand die in 400 Exemplaren gedruckte Dissertation kritisch las.
Der gesellschaftliche Lerneffekt, den diese Diskussion bewirken wird, vielleicht gar als Abschreckung bei potenziellen Textbetrügern, meint etwas, was im 19. Jahrhundert noch Allgemeingut war. Die Sache mit dem fein Gesponnenen, das doch ans Licht der Sonnen kommt: http://juttas-schreibblog.blogspot.com/2009/07/uber-die-redewendung-es-ist-nichts-so.html
Abschaffung der Doktortitel als öffentliches Statussymbol
Der Erweis seiner Unglaubwürdigkeit wird dem CSU-Freiherrn à la longue vermutlich so wenig schaden wie dem entlegenen Vorbild F. J. Strauss einst die jahrzehntelangen Verwicklungen in Waffengeschäfte und Steuerbetrug abträglich waren. Bleibt die Frage, wie sich ähnliche Aufregungen vermeiden ließen. Ganz schlicht, indem der uralte Zopf, dass akademische Grade lebenslänglich als Statussymbol gelten dürfen, endlich abgeschnitten wird. Wollen wir nicht so langsam die Kompetenz, Vertrauenswürdigkeit und Ausdauer einer Kassiererin in der Migros oder bei Edeka, während jener zwei oder sieben Jahre, die sich junge Universitäre zum Dissertieren geben, für ebenso achtbar halten?
Das öffentliche Führen eines Doktorgrads sollte peinlich werden. In einer Gesellschaft, die auf lebenslanges Weiterlernen setzt, sollte jenseits des Lebensalters 30 ein «Dr.» beim Namen als so lächerlich gelten wie das Renommieren mit einem einst gewonnen Tanzturnier. Eine solche Diskussion wird in den kritischen Medienstuben freilich ungern geführt, weil dort genügend Titelhuber sitzen, die so ihre Karrieren befördert haben und ihre Einbildungen weiterpflegen wollen.
Hinweis auf ein meisterliches Buch
Sorry. Das wollte ich eigentlich alles gar nicht schreiben. Sondern auf ein meisterliches Buch hinweisen, an dem sich die ältere Art des Lesens erleben lässt, jene Kulturtechnik, die wir neben den Freuden der hastig abgleichenden Hipphopp-Leserei weiterhin üben wollen. Welches Glück, «Das Licht der Finsternis» von Anita Albus (soeben erschienen bei S. Fischer) langsam zu lesen, sich dem Duktus dieses Textes zu überlassen, der Genauigkeit von Beschreibungen und dem beharrlichen Nachdenken, in dem die Malerin und Pflanzenkennerin verborgene kulturhistorische Bezüge weitergibt.
Es geht um ihre Proust-Lektüre, aber man muss die «Recherche» nicht unbedingt gelesen haben, um sich an den Finessen ihrer Funde zu vergnügen: Ob diese Poetessa die verlorene Ganzheit aus mittelalterlichen Kathedralen und christlichem Ritus in Prousts Anstrengungen um seine Textkathedrale der «Suche nach der verlorenen Zeit» aufscheinen lässt. Oder wenn sie, der Proustschen Köchin nachgehend, die klärende Wirkung von Eiweiß bei der Zubereitung von bœuf mode en gelée beschreibt. Oder wie sie verständlich macht, warum vorm Fenster des Abtritts, in dem der Junge die Freuden der Onanie entdeckt, erst eine Kastanie stand, dann von Proust aber ein Flieder in den Text gepflanzt wurde …
Eine Art des Lesens wird von diesem schönen, dichten Text eingefordert, die den Respekt stärkt für Literatur, wenn sie Unverwechselbares schafft, und die uns achtsamer in die Welt jenseits der Buchseiten entlässt. Februar, nasser Schnee, aber aus dem Buch steigt die Vorfreude auf den wilden Duft des Strauchs mit schwarzen Johannisbeeren.
Wer am 1. März 2011 nach Berlin reisen kann: dort liest Anita Albus im Literaturhaus, moderiert von Andreas Isenschmid.