Wie ein Phoenix aus der Asche stieg vor zwanzig Jahren aus einer vernachlässigten kleinen Kapelle unterhalb des piemontesischen Dorfes La Morra ein Kunstjuwel, das inzwischen längst kein Geheimtipp mehr ist. Die Rede ist von der Cappella del Barolo, die vom weltberühmten Konzeptkünstler Sol LeWitt und vom britischen Maler David Tremlett erneuert wurde.
Das klitzekleine Gebäude soll von den Landwirten zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Schutz vor der Witterung errichtet worden sein. Obwohl als Marienkapelle bekannt, wurde es nie konsekriert. Als die Winzerfamilie Ceretto 1970 das Areal mitsamt den Gütern erwarb, wurde die Kapelle als Garage für den Traktor zweckentfremdet.
1997 lernten die Gebrüder Bruno und Marcello Ceretto bei einer Ausstellung in Barolo David Tremlett kennen. Sie waren von dessen Malerei derart angetan, dass sie ihn für die Erneuerung ihrer Kapelle anfragten. Tremlett brachte seinen Freund Sol LeWitt ins Gespräch, der dank seinem zweiten Wohnort in Spoleto sowieso schon eine starke Beziehung zu Italien hatte. Es wird kolportiert, dass das Projekt bei einem Glas Wein beschlossen wurde und dass der Lohn in einer Flasche Barolo für jede Woche bis ans Lebensende bestand. 1999 erstrahlte die Kapelle in buchstäblich neuem Glanze und seither wird sie als Cappella Brunati oder auch Cappella del Barolo in jedem Reiseführer abgebildet.
Inspiriert von Fra Angelico
Wer vom hoch gelegenen Dorf La Morra die Kapelle sucht, wird mit Schildern zu einem steilen und teilweise nicht asphaltierten Strässchen geleitet. Schon von weitem sind die auffällig bunten Fassaden zu sehen, die auf einem Gestaltungsvorschlag von LeWitt basieren. Analog zu etlichen seiner Wandmalereien für Galerien betonte er die Felder und Rahmungen mit kräftigen Farben. Tremlett hingegen kombinierte für das Innere monochrome Flächen mit wolkigen Strukturen. Innen und aussen sind wie die zwei Seiten einer Medaille: voneinander verschieden und doch aufeinander bezogen.
Sol LeWitt, der einerseits in der jüdischen Kultur verankert war, andererseits in New York in den 1960er Jahren zu den einflussreichsten Künstlern avancierte, war schon früh von Italien fasziniert. Die Wandmalereien der Renaissance, insbesondere diejenigen von Fra Angelico, gelten als eine wichtige Quelle für seine ephemeren Wandbemalungen in Galerien.
Für Sol LeWitt war die Idee – gewissermassen als Partitur – das Werk, weniger die Ausführung. Konsequenterweise können die präzisen Anweisungen jederzeit umgesetzt werden. So geschehen beispielsweise 2013 im Centre Pompidou Metz, als Kunststudenten eine Retrospektive des 2007 verstorbenen Künstlers durch Wiederholung der wichtigsten Wandzeichnungen einrichteten.
1972 erwarb LeWitt in Spoleto ein Haus, das er jeweils mehrere Monate im Jahr bewohnte. Unter seinen Künstlerbüchern zeugen «Sunrise & Sunset at Praiano» (1980) und «From Monteluco to Spoleto» (1984) von seiner Liebe zu dieser Landschaft. In dem Sinne kann die Cappella del Barolo auch als eine Art Hommage an sein Sehnsuchtsland verstanden werden.
Der fast zwanzig Jahre jüngere David Tremlett spezialisierte sich auf Wandzeichnungen und -bemalungen, die teilweise – ähnlich wie im Schaffen von Sol LeWitt – nur für eine gewisse Zeit zu sehen waren. Wer seine Werk- und Ausstellungsliste studiert, wird feststellen, dass Italien seit den 1990er Jahren schwergewichtig auftaucht. Es scheint, als ob der fast pausenlos in der ganzen Welt unterwegs gewesene Maler in Italien seine Ruhe- und Kraftzone gefunden hatte.
Verspieltes Denkmal
2016 erhielt er die Gelegenheit, die Kapelle Beata Maria Vergine del Carmine bei Coazzolo aussen zu bemalen. Es war so etwas wie eine späte Revanche, denn obwohl Tremlett bei der Cappella del Barolo federführend war, stand er nach der Vollendung im Schatten seines Freundes. In Coazzolo war es ihm nun möglich, ebenfalls ein auffälliges Denkmal zu schaffen, das nun aber mit seinem Namen verknüpft wurde. Tremlett akzentuierte zunächst das Skelett des Baus mit dunklen Farbtönen. In die Wandflächen zwischen den Rahmungen setzte er schwebende Polygone und verlieh dadurch dem Äusseren etwas Verspieltes.
Die Cappella del Barolo wurde sogleich mit weiteren von modernen Künstlern geprägten religiösen Bauten verglichen, insbesondere mit der von Henri Matisse 1946–1951 geschaffenen Innengestaltung der Kapelle in Vence oder der von Marc Rothko 1964–1971 konzipierten und mit seinen Bildern ausgestatteten Kapelle auf dem Gelände der De Menil Collection in Houston.
Doch Sol Lewitt wie Tremlett betonten, dass sie keine religiöse Stätte reaktivieren wollten. Vielmehr ging es um eine Auseinandersetzung mit Licht und Raum, um die Einbettung eines bemalten Körpers in die Landschaft, um die Spannung zwischen Innen und Aussen – und so um die Ermöglichung eines speziellen Kunstortes. Dass beiden dennoch ein Interesse für religiös besetzte Areale nicht abgesprochen werden kann, bezeugen zwei bemerkenswerte Arbeiten. 2001 half Sol LeWitt in Chester, seinem damaligen Wohnort, die Synagoge für die dortige Gemeinde zu entwerfen. Und Tremlett lieferte 2005 für die Kirche Saint-Pierre et Paul in Villenauxe-la-Grande, rund hundert km östlich von Paris, die Entwürfe für die Glasfenster.
Seit zwanzig Jahren erfreut nun die Cappella del Barolo die zahlreichen Besucherinnen und Besucher. Zu diesem Jubiläum erschien eine Art Festschrift mit einem poetischen Kommentar zum Werden und zur Bedeutung des Werkes sowie mit der Abbildung der Entwurfsskizzen beider Künstler.
La Capella del Barolo/The Barolo Chapel di/by Sol LeWitt & David Tremlett, Corraini Edizioni, Mantova 2019, 15 Euro (www.corraini.com)