Man wird sich an den „Heimat“-Zyklus, den Edgar Reitz in drei Serien zwischen 1984 und 2006 fürs deutsche Fernsehen gedreht hat, erinnern. Die Art, in der er die Geschichte der Familie Simon und ihres (erfundenen) Dorfes Schabbach im Hunsrück erzählt, hat ein grosses Publikum in ihren Bann gezogen. Jetzt verlängert der selber im Hunsrück geborene, 82-jährige Reitz seine Geschichte nach hinten, in die Vergangenheit; er erzählt, was vorher war, nimmt sich die Vierzigerjahre des 19. Jahrhunderts vor und er ändert die Form: aus der „anderen Heimat“ ist ein vierstündiger Kinofilm geworden. Man schaut ihn sich an, wie man einen grossen Roman liest. Und man könnte, wenn Herr Reitz das gewollt hätte, noch ein paar Stunden länger zuschauen…
Erzählt wird in ruhigen Bildern, langen Einstellungen, in einem suggestiven Rhythmus, der Aussenräume mit Innenräumen wechseln lässt, vom Leben, eher vom Ueberleben und vom Sterben im Dorf Schabbach und Umgebung, von einer entbehrungsreichen, harten Existenz, wie sie die unbarmherzige Natur den Bewohnern aufzwingt. Sie ertragen sie – meistens - geduldig oder fatalistisch und würden sie doch nur zu gerne eintauschen. Das Leben tauschen gegen ein anderes, die Heimat gegen eine andere – in Brasilien. Die arme Hunsrückgegend war Mitte des 19. Jahrhunderts eine Auswandererregion und der Kaiser von Brasilien lockte die Reisewilligen mit Wohlstand verheissenden Anreizen. Im Film bilden die schwer beladenen Pferdefuhrwerke mit den hinter ihnen stapfenden Menschengruppen, die auf dem Weg zur nächsten Hafenstadt sind, ein Leitmotiv, das Hoffnung und Elend Hunsrückscher Existenz zugleich symbolisiert.
Überzeugende Ästhetik
Der Film ist in Schwarzweiss gedreht und gehorcht so einer strengen, atmosphärisch dichten Aesthetik, die von Anfang an fasziniert. Selten – und das wirkt jeweils entsprechend stark – werden Farbnuancen ins Geschehen eingeschleust: etwa wenn die Darstellerin des Jettchens (Antonia Bill) ihrer Freundin einen Halbedelstein zeigt oder wenn der Hauptrollenträger Jakob (Jan Dieter Schneider) dem Jettchen erklärt, dass ein brasilianischer Indianerstamm 22 Wörter für die Farbe grün kennt und dann zeigt er auf Gegenstände, die sichtlich verschiedene Grüntönungen aufweisen.
Realer Schauplatz des Films ist ein Dorf im Hunsrück, aber Reitz´ Equipe hat Kulissen eingebaut, Häuser, Strassen, Gelände transformiert, um der Plausibilität willen. Die Zeit, um rund 170 zurückgedreht, soll so authentisch wie nur möglich vermittelt werden. Tiere wurden im Filmdorf ausgesetzt und sie bleiben vier Stunden lang allgegenwärtig; Handwerk, Handarbeit dominiert die Handlung aufs selbstverständlichste. Wenn ein Pferd beschlagen wird, dauert das so lange wie der Schmid Johann Simon (Rüdiger Kriese) für so eine Dienstleistung eben realiter braucht. Die Neuzeit, die sich politisch für das vom eigenen Adel und vom fernen Preussen verwaltete und drangsalierte Land durch studentisches Aufbegehren oder durch ein bisschen Randale nach einem Dorffest manifestiert, kündigt sich technisch in der Installation einer Dampfmaschine an, die des Schmids Söhne montieren und die im zweiten Anlauf auch funktioniert.
Schwebender Stil
Ein eigentümlich schwebender Stil prägt die Szenen im Inneren der Häuser, was auf die Verwendung einer steadicam zurückzuführen ist, einer kleinen Kamera mit der man auf engem Raum Personen und Handlungen verfolgen kann, ohne dass die Bilder verwackelt werden. Es ist, als ob man als Zuschauer zu einem unsichtbaren Beobachter mutieren würde, der das Geschehen aus nächster Nähe mitbekommt, involviert ist, schon fast zum Personal gehört. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist auch die sparsam eingesetzte Musik von Michael Riessler, ein oft nur aus ein paar Akkorden bestehendes Melodienfragment, das die einzelnen Szenen strukturiert und stimuliert.
Der Hauptrollenträger Jakob, ein verträumter, schüchterner aber auch hartnäckiger, visionärer Charakter ist derjenige, der die „andere Heimat“, Brasilien, herbeiträumt und alles daran setzt, den Traum in die Wirklichkeit überzuführen. Jakob studiert Bücher, er kennt Brasilien in- und auswendig, weiss über Geographie, Land und Leute Bescheid und spricht verschiedene Indianersprachen. „Chronik einer Sehnsucht“ nennt er das Tagebuch, das er führt und aus dem er im Film gelegentlich liest: das Schabbacher Geschehen wird so in Schrift und Text reflektiert, die eine Heimat mit der anderen kontrastiert.
Was ist Heimat?
Als der andere, tatkräftige Sohn des Dorfschmids, Gustav (Maximilian Scheidt), aus preussischem Militärdienst ins Dorf zurückkehrt, wird Jakob brutal aus seine Träumen und Fantasien gerissen. Das geliebte Jettchen heiratet den Gustav – und die beiden wandern anstelle Jakobs tatsächlich nach Brasilien aus. Jakob muss seine Pläne begraben, muss die Eltern unterstützen und zuhause bleiben. Er träumt und studiert weiter an der „anderen Heimat“ herum, während er sich in der eigentlichen mehr und mehr etabliert. Der Film, das zeigt sich immer deutlicher, ist auch eine subtile Studie über den Heimat-Begriff. Der lässt sich auf die Sprachen der brasilianischen Indianer so gut anwenden wie auf das in Schabbach gesprochene Hunsrücker Platt; und er kann eine Sehnsucht in Kopf und Herz so gut ausfüllen und benennen wie eine gelebte Wirklichkeit.
In einer der letzten Szenen des Films wird der weltberühmte Universalgelehrte jener Zeit, Alexander von Humboldt, nach Schabbach kutschiert – er hat mit Jakob korrespondiert und möchte den kenntnisreichen Autodidakten treffen. Der aber flieht in die Felder und Wälder. Den Humboldt verkörpert Reitz´ berühmter Kollege Werner Herzog, der seine Heimaten oft draussen, im Exotischen gefunden hat. Humboldt/Herzog, schon in die Nähe von Schabbach gelangt, fragt einen Bauern, der seine Sense dengelt, nach dem Weg. Den Hunsrücker Heimat-Bauern spielt Edgar Reitz.