Ein professioneller Beobachter Indiens könnte sich dieser Tage keine Auszeit leisten – so rasant und rabiat werden staatliche Institutionen und Normen um- beziehungsweise abgebaut.
Wer geglaubt hatte, dass sich die BJP-Regierung unter Narendra Modi auf den Lorbeeren ihrer reihenweise eingefahrenen Wahlsiege ausruhen würde, sieht sich getäuscht. 75 Jahre hatten die Hindu-Nationalisten wenn nicht im Untergrund, so doch in der Opposition verharrt. Es ist, als hätten sie dort eine mit Ressentiments und Veränderungsplänen geladene Energie aufgestaut. Mit ihr entfachen sie nun im ganzen Land Flächenbrände, als müssten tausend Jahre Geschichte ausgelöscht werden.
«Tausend Jahre Sklaverei»
Auch der Premierminister spricht von «tausend Jahren Sklaverei», die es nun abzuschütteln gelte. Der Kolonialismus war damals noch nicht erfunden, aber es gab bereits muslimische Invasoren, die den Migrationsbewegungen aus Zentralasien ihren religiösen Stempel aufsetzten. Wenn es also um eine Renaissance der Hindu-Kultur geht, dann soll sie auf den Ruinen dieser Sklavenherrschaft gebaut werden.
Hindutva-Ideologen, die nun in akademische Schlüsselpositionen rücken, zimmern bereits eifrig an der (Re)Konstruktion eines zweitausendjährigen «zivilisatorischen Staats», der dem Einbruch der muslimischen Horden vorausgegangen war. Im religiös gefärbten Indien von heute sehen sie bereits die Wiederauferstehung dieses Staats.
Laut ihnen wies dieser Staat seit Beginn demokratische Elemente auf; sie sind also kein westliches Leihgut. Schon zu vedischen Zeiten gab es «Panchayats», gewählte Dorfräte. Auch die staatliche Gewaltentrennung gründet nicht etwa auf hellenischen oder römischen Errungenschaften. Im vorkolonialen Indien, verkünden sie, war das Gewalt-Monopol des Staats bereits durch religiöse Normen harmonisch ein- und zurückgebunden worden. Die klassische hinduistische Staatslehre habe im Umgang mit anderen Staaten deren Souveränität respektiert. Indien habe sich nie als militärischer Aggressor betätigt.
Einschränkung bürgerlicher Rechte
Es zeichnet sich hier die Konstruktion (wenn nicht Erfindung) eines Selbstbilds ab, das Indien nicht als Erbin demokratischer oder autokratischer Modelle anderer Zivilisationen sieht. Demokratischer Ausgleich und internationale Gleichberechtigung waren immer schon grundlegende Bestandteile seines Selbstverständnisses. Das neue Indien kann, so geht die Sprachregelung, durchaus Teile ausländischer Modelle übernehmen, Kapitalismus oder Sozialismus etwa. Es passt sie aber in eine eigene religiös legitimierte nationale Tradition ein und begründet sie aus dieser.
Dies bildet den historischen Rahmen, innerhalb dessen allmählich auch «westliche» Grundwerte – wie der Primat des Individuums über der Gruppe – in Frage gestellt werden. In dieser Projektion ordnen sich Individualrechte jenen der Gruppe unter, und diese dem Staat. Dies gilt für die hinduistische Kastenordnung ebenso wie für die Standortbestimmung religiöser Minderheiten. Kasten werden nicht als solche geächtet – verpönt ist lediglich die soziale Stigmatisierung tiefer Kasten. Christentum und Islam sind Eroberer-Religionen, und die Zugehörigkeit zu ihnen schränkt die bürgerlichen Rechte ihrer Anhänger «naturgemäss» ein.
Diese Sicht relativiert damit Grundwerte, die mit der Uno-Charta und den daraus entwickelten «Allgemeinen Deklarationen» global Anerkennung gefunden haben. Und da diese auch in die indische Verfassung eingeflossen sind, distanzieren sich Akademiker implizit (und zunehmend auch explizit) selbst von der eigenen Grundordnung. Nicht nur der Säkularismus indischer Prägung – die unterschiedslose Anerkennung aller religiösen Ausdrucksformen – wird in Frage gestellt. Auch der fundamentale Eckpfeiler der Rechtsgleichheit aller Bürger, den die Verfassung explizit anerkennt, steht damit zur Disposition.
Kollektives Opfer-Narrativ
Für Hindutva-Akademiker sind es westliche und verwestlichte Historiker, die in der Mogulenherrschaft (zeitgleich mit der europäischen Renaissance) die Hochblüte einer indo-islamischen synkretistischen Kultur erkennen. Nicht nur in der Malerei, Musik und Architektur hat sie sich Ausdruck verschafft, auch Sprache und Religion – der Sufismus etwa – wurden von ihr geprägt. Doch was die Nationalisten sehen, sind nicht prächtige Städte, Bewässerungssysteme und Gebetsstätten, sondern die Trümmer von Tempeln, die als Bausteine für Moscheen herhalten mussten.
Mit diesem anti-muslimischen Feindbild wird nicht nur ein anderer Blick auf die eigene Geschichte eingefordert. Es ist ein Feind in Fleisch und Blut, und an ihm müssen nun alle Spuren von Fremdherrschaft wieder rückgängig gemacht werden. Die islamische Vergangenheit wird zur Projektionsfläche für ein kollektives Opfer-Narrativ, das historisches Unrecht einer real existierenden gesellschaftlichen Gruppe anheftet.
Es ist ein nützlicher historischer Zufall, dass es sich um eine Minderheit handelt, die bei der Teilung des Landes 1947 um die Hälfte ihrer Bevölkerung – und ihrer ganzen Elite – beraubt worden war, und dass sie heute die ökonomisch und sozial unterste Gesellschaftsschicht Indiens darstellt. Dies macht es einfach, auf sie einzuhauen und sich gleichzeitig dazu legitimiert zu fühlen.
Lynchjustiz
Dieser Opfermodus ist, auch dank der systematischen Propaganda willfähriger Medien, so virulent, dass selbst geruhsame Mittelklasse-Hindus (und erstaunlich viele Frauen) wenig dabei finden, dass sich eine regelrechte Lynchjustiz breitgemacht hat. Darauf angesprochen, antworten sie oft, Muslime sähen eben verdächtig aus und führten sicher etwas im Schilde.
Allein ihr Erscheinen in der Öffentlichkeit wirkt provozierend, so dass muslimische Viehhändler gelyncht oder junge Männer aus Eisenbahnabteilen geschleppt und nicht selten zu Tode geprügelt werden. Kürzlich wurde in einer Stadt in Zentralindien ein verdächtig wirkender Mann – in Wirklichkeit ein geistig gestörter Greis – auf der Strasse aufgefordert, seine Religionszugehörigkeit zu nennen. Als er verwirrt antwortete, wurde er so malträtiert, dass er auf der Stelle starb. Passanten sahen tatenlos zu. Einer filmte die ganze Szene. Später stellte sich heraus, dass das Opfer ein Hindu war.
Diese «Schock-Phase» soll nun aber ausgedient haben. RSS-Kader und einzelne BJP-Politiker gebieten ihren Heisspornen Einhalt. Stattdessen wird nun zur Jagd auf kulturelle und ökonomische Aktivitäten der Minderheit geblasen. Es begann unter dem ominösen Slogan «Love Jihad», die mit handfesten Massregelungen junger Muslime und Hindu-Frauen begannen, denen jetzt Gesetze folgen, die solche Ehen praktisch unmöglich machen sollen.
Dann kam es Schlag auf Schlag. Strassenhändlern wird das Handwerk gelegt, weil sie mit ihrem Schlachtfleisch die vegetarische Sensibilität der Hindu-Mehrheit verletzen; oder weil sie es wagen, in der Nähe von Hindu-Tempeln ihre Ware – selbst Hindu-Statuetten – zu verkaufen. Schulmädchen werden zur Zielscheibe, weil sie in der Schule einen Hijab tragen; Lautsprecher zur Ausrufung des Gebets ist öffentliche Ruhestörung, das öffentliche Freitagsgebet beeinträchtigt den Verkehr.
Muslim-Bashing
Dabei wird immer das Opfer-Narrativ hervorgeholt: Muslimische Männer wollen unschuldige Hindu-Mädchen zum Islam bekehren, um dem Islam allmählich ein demographisches Übergewicht zu geben. Der Hijab ist eine religiöse Kleidung und verletzt die säkulare Verfassung, die in der Schule keine religiösen Symbole duldet.
Nun haben die Hindutva-Strategen bereits wieder eine neue Front eröffnet. Einige Hindu-Frauen in Varanasi begehrten Einlass in die Gyanvapi-Moschee, weil sie gehört hätten, dass dort in einem Tiefbrunnen eine Shiva-Statue lag; sie wollten zu ihr beten. Anwälte forderten ein lokales Gericht auf, die ganze Moschee per Video zu untersuchen, um solche hinduistische Relikte ausfindig zu machen.
Kaum war diese Mine losgetreten, meldeten sich Hindus in der Stadt Mathura, dem Geburtsort Krishnas, die offenbar wussten, dass unter der lokalen Moschee Überreste eines Tempels lagen. Dann kam eine dritte, vierte Moschee zum Vorschein, bis sich die Proteste zu einem Chor ausweiteten und behauptet wurde, dass mindestens 1500 frühere Tempel darauf warteten, wieder ihren Gottheiten zugeführt zu werden. Sogar im Taj Mahal wurde ein früherer Hindu-Tempel geortet. Es gibt zwar ein Gesetz von 1991, das den Status quo aller Gebetsstätten in Indien garantiert. Doch für die Ultras ist selbst die Verfassung sekundär, wenn es um Fragen des Glaubens geht.
Mitten in diesem Trommelfeuer platzen dann manchmal Rohrkrepierer, die zumindest kurzzeitig wieder Hoffnung wecken. Zwei BJP-Sprecher äusserten sich bei einer TV-Diskussion überaus abfällig über den Propheten Mohammed. Obwohl eine Neben-Show – Muslim-Bashing gehört selbst bei Ministern zum guten Ton – regnete es plötzlich internationale Proteste.
Zaghafte Proteste
Es begann, als der Emir von Qatar den indischen Botschafter zu sich beorderte. Dann hagelte es diplomatische Proteste aus allen islamischen Staaten. Die beiden Parteifunktionäre wurden rasch aus dem Verkehr gezogen, das Aussenministerium versicherte eilig, Indien habe vor allen Religionen den grössten Respekt; der Zwischenfall habe mit der Regierung nichts zu tun.
Der Blick auf die Handelsstatistik fördert rasch das Motiv dieser Liebedienerei zutage. Der wirtschaftliche Austausch mit der muslimischen Welt beläuft sich auf 120 Milliarden Dollar, ein Viertel davon sind Lieferungen fossiler Energieträger. Sie bilden 40 Prozent des indischen Gesamtverbrauchs, ein möglicher Fehlposten, den auch grosszügige russische Erdöl-Exporte nicht ersetzen könnten. Acht Millionen Inder arbeiten in der Golfregion; deren Lohntransfers verbessern Indiens Leistungsbilanz um jährlich 35 Milliarden Dollar.
Es ist das erste Mal nach langer Zeit, dass die indischen Muslime aufatmen können. In allen Landesteilen wagten sie zaghafte Proteste. Auch sie wussten natürlich, dass es eines ist, gegen die Beschimpfung des Propheten in Rage zu geraten, und ein anderes, für dessen Anhänger einzustehen. Auch die Behörde erkannte rasch den Unterschied. In der Stadt Allahabad, die heute natürlich «Prayagraj» heisst, wurden die «Rädelsführer» nicht nur verhaftet. Der BJP-Chefminister liess gleich Bulldozer auffahren und deren Häuser dem Erdboden gleichmachen.