Es gibt neu einen ausführlichen Bericht darüber von Human Rights Watch 1), der auch die Wege beschreibt, auf denen die Information nach aussen gelangt. Die Verbindungen zwischen Jordanien und dem südlichen Fokus der Demonstrationen und ihrer besonders grausamen Niederhaltung, in der Grenzstadt Deraa, spielen dabei eine besondere Rolle. Die gleichen Stämme leben auf beiden Seiten der Grenze, und es besteht starke Solidarität zwischen ihnen. Eine andere wichtige Quelle waren bisher nordafrikanische und andere arabische Journalisten, die für arabische, französische und englische Medien arbeiteten, weil Araber in Syrien keine Visa benötigen und sie daher einreisen und berichten konnten. Freilich nicht ohne Risiko. Der algerische Journalist, Khaled Sid Mohand, der seit zwei einhalb Jahren in Syrien lebte und sich vom 9. April bis zum 3. Mai in syrischer Haft befand, berichtete über seine Erfahrungen in mehreren französischen Medien, darunter Le Monde, l'Express, Radio France 24 , alles Media, für die er gearbeitet hatte 2).
Isolierung und Verhaftungswelle
Aus derartigen Quellen und anderen Berichten geht hervor, dass die syrischen Truppen, von Tanks unterstützt, Ortschaften, Quartiere und Städte umzingeln, wo es zu grössern Demonstrationen gekommen ist. Durch scharfe Schüsse, begleitet von Tränengas und Polizeischlägern, "reinigen" sie die Strassen. Im Gegensatz zu den angeblichen Befehlen, nicht scharf zu schiessen, werden dabei jeweilen einige, manchmal einige Dutzend, Personen erschossen und angeschossen.
Wenn sie die Strassen auf diese Weise leer gefegt haben, treten, meist nachts, die Sicherheitsleute in Aktion. Sie suchen die Personen, die ihnen als vermutete Aktivisten unter den Demonstranten bekannt sind. Wenn sie sie nicht finden, weil die Gesuchten oft nicht in der eigenen Wohnung schlafen, üben sie Druck auf die Familienangehörigen aus. Diese können selbst festgenommen werden, wenn sie sich nicht kollaborationsbereit finden. Auch Nachbarn und Berufskollegen werden befragt, und auch sie können abgeführt werden.
Die "Verhafteten" werden in fast allen Fällen geschlagen, oft auch gefoltert. Nach längerer oder kürzerer, theoretisch illegaler, "Entführung" wird vielen von ihnen ein Formular vorgelegt, das sie unterschreiben müssen, um freigelassen zu werden, manchmal ohne es auch nur lesen zu können. Darin steht, sie verpflichteten sich, in Zukunft alle Demonstrationen zu unterlassen und auch alle Personen zu denunzieren, von denen sie wissen, dass sie mit den Demonstrationen zu tun hätten.
Vermutlich mehr als 10 000 werden festeghalten
Die wenigsten der Entführten und Misshandelten erfahren, welchen Vergehens sie angeschuldigt werden. Wie kurz oder lange sie festgehalten werden, ist völlig willkürlich. Weder sie selbst noch ihre Angehörigen wissen, wo sie sich befinden oder wie lange sie festgehaöten werden. Die Zellen sind oft überfüllt, so dass man darin nur schichtweise schlafen kann. Es kommt auch vor, dass die Gefangenen nach Folterungen aufgefordert werden, mit den Sicherheitsdiensten zusammenzuarbeiten, um anderer Animatoren der Protestdemonstrationen habhaft zu werden. Die Zahl der Festgenommenen und der "Verschwundenen" dürfte Zehntausend überschreiten. Die Gefängnisse werden periodisch geleert, um neuen Schüben von Festgenommenem Platz zu machen. Im Durchschnitt werden solche Gefangene offenbar zehn Tage lang festgehalten, während ihrer Verhöre geschlagen und meistens auch schwer gefoltert. Ziel der Verhöre scheint mehr die Erniedrigung der Misshandelten als das Gewinnen von wirklichen Informationen zu sein.
Zeugenaussagen
Hier kurze Auszüge aus dem Bericht von Human Rights Watch und den Schilderungen Khaled Sid Mohand:
Khaled Sid Mohand: "Die psychologische Folter bestand aus dem Anhören der Schreie aller Festgenommenen. Jederzeit nahmen sie einen der Gefangenen aus seiner Zelle, und man konnte ihn schreien hören wie in der Hölle. Manchmal für 15 Minuten manchmal länger als eine Stunde". ..."Sie setzen mich wieder auf meinen Stuhl, verbinden mir die Augen und schliessen elektrische Drähte an verschiedenen Stellen an meinem Körper an, einschliesslich der Geschlechtsteile. Ich erwarte starr vor Schreck einen elektrischen Schlag. Er erfolgt nicht. Es war bloss simuliert. Die vermeintlichen Elektroden waren nur die Kabel meines PCs. - Sie sagen mir, wenn ich die wahre Behandlung wolle, verfügten sie über alles notwendige Material. In diesem Augenblick entscheide ich mich dafür, ihnen das Pseudonym preis zu geben, unter dem ich schreibe. Von da an bin versteinert durch die Angst, unter der Folter die Namen aller der Leute zu nennen, deren Vertrauen ich genossen und die mir ihre Erfahrungen mitgeteilt hatten.."
Aus dem Bericht von Human Rights Watch: "Sie kamen in mein Haus und brachen die Türe ein. Sie konnten niemanden finden. Sie gingen deshalb zu meinem Nachbarn, um ihn zu befragen, wo sie mich oder meine Frau und meine Kinder finden könnten. Er antwortete nicht, und sie nahmen ihn fest. Aber er ist eine bekannte Stütze der Baath Partei. Deshalb liessen sie ihn nach 10 Stunden gehen. Sie gingen dann zum Laden meiner Frau und machten das gleiche mit zwei Männern, die einen Esswarenladen und einen Laden für elektrische Geräte in der Nähe betreiben. Einer war zwei Tage lang im Gefängnis, der andere ist noch dort. Meine Frau und ein Kind leben nun an einem Ort, und meine anderen zwei Kinder an einem anderen. Ich verstecke mich in Damaskus und verändere einen Aufenthalt alle zwei Tage." (Prominenter Aktivist der Opposition, der seinen Namen geheim halten will).
Wenn man zahlreiche Berichte vergleichbaren Inhalts und ähnlicher Tonart liest, erhält man die Umrisse eines ziemlich kohärenten und in sich schlüssigen Gesamtbildes der gegenwärtigen Vorgänge in Syrien.
Verschleierungstaktik der Regierung
Die Regierung versucht natürlich durch ihre Propaganda die Realität zu verschleiern und zu entstellen. Sie erklärt einerseits systematisch, die Leute der Protestbewegung seien vom Ausland, besonders Israel und Amerika, aufgestachelte Agenten, die Syrien zerstören wollten. Manchmal spricht die Regierung auch von angeblichen Terroristen. Wenn es zu Schüssen und Todesopfern kommt, behauptet die Regierung dies gehe auf "Schmuggler" und andere "Banden" zurück, die auf die Sicherheitskräfte schössen. Dies wird über die offizielle Nachrichtenagentur, SANA, und über die vom Staat publizierten oder kontrollierten Blätter verbreitet, natürlich auch über Radio und Fernsehen. Media, die dem widersprechen gibt es in Syrien nicht.
Zusagen ohne realen Inhalt
Die Staatspropaganda arbeitet auch mit Versprechen und Ankündigungen positiver Natur. Darunter sind die offiziellen Verkündigungen des Staatschefs zu rechnen, dass der Sonderzustand in Syrien, der seit Menschengedenken bestand, nun "aufgehoben" sei. Sowie eine jüngst angekündigte Amnestie für alle Vergehen bis zum 31. Mai dieses Jahres, welche sogar die Muslim Brüder betreffe. Solche formal rechtlichen Ankündigungen sind inhaltlos, solange die Geheimdienste genau das tun und lassen, was sie wollen, ohne sich um irgendwelche rechtlichen Formalitäten zu kümmern.
In die gleiche Kategorie des Bedeutungslosen fällt der mehrfach angekündigte "Dialog" mit der Protestbewegung, den die Regierung zu führen gedenke oder gar schon begonnen haben will. Ebenso auch die angeblichen Untersuchungen von Missständen und Übergriffen, die von Zeit zu Zeit angekündigt werden, wenn sich irgendeine der zahllosen Untaten, die geschehen, in keiner Hinsicht mehr verbergen lässt.
Möglicherweise versucht der Präsident gelegentlich wirklich auf die Begehren der Bevölkerung, wenigstens ein klein bisschen, einzugehen. Doch wenn das tatsächlich der Fall sein sollte, müsste man auch annehmen, dass er gegenüber seinen eigenen Sicherheitsleuten und Polizeischergen völlig machtlos sei.
Gefoltert oder "nur" erschossen - der 13jährige Hamza al-Khatib?
Ein Beispiel für diese Art von Propagandabehandlung ist der Fall des ermordeten und wahrscheinlich von der Polizei zu Tode gefolterten 13 jährigen Hamza al-Khatib aus einem Dorf in der Nähe von Deraa. Seine verstümmelte Leiche wurde am 29. Mai den Eltern zur sofortigen Beerdigung übergeben, nachdem er am 29. April verschwunden war. Die Eltern beschlossen vor der Beerdigung, seine Leiche mit ihren Verstümmelungen mit dem Handy zu photographieren, und die Aufnahmen sind bereits um die Welt gegangen. Man findet sie unter anderem bei Huffpost World 3). Sie sind eher verwackelt und deuten mehr an als wirklich zu zeigen, was vermutlich geschehen war. Der Kommentar auf arabisch, der dazu gehört, spricht von Wunden durch Einschüsse, die absichtlich nicht unmittelbar lebensgefährlich gewesen seien, zum Beispiel auf die Kniee, von Brandwunden durch Zigaretten, Verstümmelung der Geschlechtsteile usw.
Die Regierung hat ihre Version aufgestellt und sogar übers Fernsehen verbreitet, in der sie behauptet, der Junge sei schon am 29. April bei einer Demonstration erschossen worden. Ein angeblicher Richter sprach vor dem Fernsehen von drei tödlichen Einschüssen, die festgestellt worden seien. Doch man habe nicht gewusst, wer er sei und deshalb die Leiche erst später an die Eltern abliefern können. Die Verstümmelungen seien keine solchen sondern gingen auf den schlechten Zustand des Leichnams zurück. Am Fernsehen wurde auch ein Mann gezeigt, der sich als der Vater des getöteten Knaben ausgab und erklärte, der Präsident persönlich habe ihn empfangen und mit seinem Unglück sympathisiert. Die Demonstranten behaupten, der Vater, Ali al-Khatib, befinde sich im Gefängnis.
Die Regierung will auch eine Untersuchung der Vorfälle durchführen. Doch die Regierungsversion kommt hinter jener der Protestbewegung und deren Bildern einher. In Syrien wird ihr wohl schwerlich viel Glauben geschenkt. Die Leute des Widerstandes versuchen aus dem 13 jährigen "Märtyrer" eine Symbolfigur zu schaffen, die dazu dienen soll, den ganzen Widerstand hinter ihr zu vereinigen und neu anzufachen.
1) www.hrw.org/en/reports/2011/06/01.we-ve-never-seen-such-horrors-0 54 Seiten, auch andere frühere Berichte unter www.hrw.org.
2) Ausführlicher Bericht in Le Monde 29. und 30.Mai, p.15 "Dans les geôles de Bachar Al-Asad". Verschiedene Interviews in "L'Express", France 24, und mit dem Internationalen Presse Institut. Vgl. * http://www.france24.com/en/20110510-algerian-journalist-khaled-sid-mohand-released-syrian-detention-torture-assad *
3)* http://www.huffingtonpost.com/2011/05/31/hamza-al-khatib-syria-boy-killed_n_869314.html http://news.yahoo.com/s/afp/20110528/wl_mideast_afp/syriapoliticsunrestboy_20110528123806 *