Die Position eines „exekutiven Präsidenten“ (ohne die Einschränkungen und Kontrollen, denen die amerikanische exekutive Präsidentschaft untersteht) war seit Jahren das langfristige Ziel Erdogans. Nun ist es ganz in die Nähe gerückt. Es braucht nur noch ein „Ja“ in dem kommenden Plebiszit, um endgültig Wirklichkeit zu werden.
Der Präsident regiert per Dekret
Daher setzen nun Erdogan und die von ihm angeführte Mehrheitspartei, die AKP, alles daran, das Plebiszit zu gewinnen. Die gegenwärtige Machtposition des Präsidenten ist derart, dass es auf den ersten Blick so gut wie gewiss scheint, dass er das Plebiszit gewinnen werde.
Es herrscht Notstand in der Türkei, und er wird bis über den 16. April hinaus bestehen bleiben. Im Zeichen dieses Notstands kann der Präsident durch Dekrete regieren und ist nicht auf das Parlament angewiesen, in dem seine Partei ohnehin die absolute Mehrheit innehat.
Der Notstand ist ausgenützt worden und wird weiter benützt, um eine systematische Verfolgung der angeblichen Feinde „der Türkei“ durchzuführen, die so gehandhabt wird, dass sie auf eine Hexenjagd gegen alle Widersacher der Regierung hinausläuft. Allerdings bleibt eine grössere Oppositionspartei, die CHP (Republikanische Volkspartei), als offizielle Opposition mit 134 Sitzen in einem Parlament von 550 einigermassen unbehelligt weiter bestehen.
Überragende Machtposition Erdogans
Im Zeichen des Notstands hat die Regierung die türkischen Medien weitgehend gleichgeschaltet, indem sie oppositionelle Stimmen entweder verbot oder übernahm und ihre bisherige Leitung absetzte, um neue, eigene Chefredaktoren einzusetzen. Auch bedeutende wirtschaftliche Konzerne wurden vom Staat übernommen. Ihren Besitzern wird vorgeworfen, sie hätten Fethullah Gülen, den angeblichen Urheber des misslungenen Staatsstreichs vom Juli 2016, unterstützt.
Mit ähnlichen Anklagen und Vorwürfen wurde die Entlassung von rund 110‘000 Staatsangestellten bis hinauf zu den Richtern und die Einkerkerung von gegen 44‘000 angeordnet. Die Gefängnisse sind überfüllt mit Angeklagten, die auf ihren Prozess warten müssen. Auch die Armee und die Sicherheitskräfte sind von diesen „Reinigungen“ betroffen. Sie greifen auch in das Bildungswesen, Schulen und Universitäten, hinein.
Die Verfolgungen erstrecken sich ebenfalls auf angebliche Sympathisanten der kurdischen PKK, gegen welche ein voller Krieg in der Türkei und im benachbarten Syrien geführt wird.
Der Ausgang vielleicht doch ungewiss
Die Allmachtposition Erdogans und seiner Partei erweckt den Eindruck, dass das vorgesehene Plebiszit eine Formsache sei. Er hat alle Fäden in seiner Hand, wie sollte da noch ein mehrheitliches „Nein“ zu seinen Wünschen zustande kommen. Doch die AKP und Erdogan selbst sind nicht gewillt, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Sie bleiben überaus aktiv in ihrem Kampf um ein „Ja“ mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln.
Und dies hat seine Gründe. Wenn man sich die Zahlen der vergangenen Parlamentswahlen anschaut, ist klar, die AKP erhielt damals, im November 2015, 49.5 Prozent der Stimmen. Das heisst über 50 Prozent der Stimmen wurden gegen sie abgegeben. Dieses Wahlresultat bescherte der Regierungspartei die erwünschte absolute Mehrheit (317 von 550 Sitzen im Parlament) auf Grund der Resultate in den einzelnen Wahlkreisen und der Mehrheitsprämien, welche die Sitzverteilung bedingten. Doch beim Plebiszit geht es nicht um Sitze, sondern um die blossen Zahlen von Ja und Nein.
Inzwischen hat allerdings der Putschversuch vom vergangenen Juli stattgefunden. Welchen Einfluss er haben wird, bleibt offen. Die Regierungspropaganda tut, was sie kann, um die Behauptung glaubwürdig zu machen: ‚Wer 'nein‘ stimmt, ist ein Terrorist, entweder des ‚Gülen-Terrorismus‘ oder des PKK-Terrorismus.“ Der Ausgang des Plebiszits hängt davon ab, wie viele Türken das glauben.
Spaltung unter den türkischen Nationalisten
Um den Verfassungsänderungsantrag durchzubringen, benötigte die AKP im Parlament die Mitarbeit der ultra-nationalistischen MHP (Partei der Nationalen Bewegung). Es war der Putschversuch im Sommer und die schon zuvor 2015 erfolgte Wiederaufnahme des Kriegs gegen die kurdische PKK, denen Erdogans Mehrheitspartei das Bündnis mit der MHP verdankte. Der Chef der MHP, Devlet Bahceli, entschloss sich angesichts dieser beiden Ereignisse, die AKP zu unterstützen, nachdem seine Partei während Jahren in der Opposition gegen die Regierungspartei gestanden war.
Doch seine Partei folgt ihrem Führer nur teilweise. Es gab eine Spaltung unter den Nationalisten. Einer ihrer bisherigen Führer, Meral Aksener, entschloss sich, gegen den Parteichef Bahceli aufzutreten und für ein „Nein“ im Plebiszit zu werben. Wie viele Stimmbürger der Partei ihm folgen werden, ist ungewiss.
Repression gegen die kurdischen Parteien
Ungewiss ist auch, wie sich der gegenwärtige scharfe Kurs des Regimes gegen den kurdischen Widerstand unter den Kurden (15–20 Prozent der Bevölkerung) auswirken wird. Gegen die PKK und ihre Sympathisanten führt das AKP Regime eine Vernichtungspolitik. Die pro-kurdische Partei, HDP (10 % der Stimmen in den erwähnten Wahlen), die mit demokratischen Mitteln für die kurdischen Anliegen kämpfte, wurde weitgehend mundtot gemacht. Ihre beiden Anführer sitzen im Gefängnis und viele ihrer Abgeordneten sind angeklagt. Ihre parlamentarische Immunität wurde aufgehoben. Manche sehen sich auch mit Gefängnis bedroht.
Die Partei hat die Parole der Stimmenthaltung ausgegeben. Ihre Politiker sagen, in einem dermassen ungleichen Wahlkampf spielten sie nicht mit.
Ungewissheit über die kurdischen Stimmen
Doch unter den Kurden gibt es auch bürgerliche und konservative Kreise, die bisher dazu neigten, für die AKP zu stimmen. Ob solche Stimmen zunehmen werden, weil die bürgerlich-konservativen Wähler ein Ende der schweren und zerstörerischen Unruhen in den kurdischen Landesteilen anstreben, oder ob die Empörung über die in dem militärischen, politischen und zivilen Ringen gegen die kurdischen Politiker und Guerilleros verübten Brutalitäten und Ungerechtigkeiten das Übergewicht unter den kurdischen Stimmbürgern erlangen werden, bleibt auch offen.
Anzumerken wäre auch noch: die einzige grössere und bisher nicht staatliche Nachrichtenagenturen der Türkei, Cihan, wurde mit den Mitteln des Ausnahmezustands vom Staat übernommen. Der Staat hat nun zwei Presseagenturen, Andaolu und Cihan. Die beiden sind die einzigen Organisationen, die in der Lage sind, die Stimmabgabe grossflächig, in allen Wahlkreisen zu beobachten. Dies erleichtert die Möglichkeit für den Staat, in den abgelegenen Gebieten, die oftmals kurdische Gebiete sind, Stimmen zu fälschen, falls dies angestrebt werden sollte.
Polemik mit Deutschland, Holland und Österreich
Natürlich gehören auch die Auseinandersetzungen mit den europäischen Staaten, in denen viele Türken leben und arbeiten, in den Zusammenhang des scharfen Kampfes um den Ausgang des Plebiszits. Die Polemik gegen Deutschland, mit Nazi-Vorwürfen von Erdogan selbst, dient der türkischen Wahlpropaganda. Die pro-Regierungsblätter und Fernsehstationen, das sind heutzutage beinahe alle (und die wenigen, die es noch nicht sind, müssen vorsichtig sein, wenn sie es nicht werden wollen), haben sich genüsslich in die Polemik gestürzt.
Die angebliche Unterbindung der Meinungsfreiheit „für Türken“ in Deutschland, Holland, Österreich, dient dazu, die mangelnde Meinungsfreiheit im eigenen Land in den Schatten zu stellen. „Seht nur, wie undemokratisch die sind, und uns werfen sie mangelnde Meinungsfreiheit vor!“ Was den nationalistischen Instinkten schmeichelt.
Erdogan selbst gibt den Takt vor: „Ich hatte gedacht, dass der Nazismus in Deutschland zu Ende sei. Doch ich sehe, er geht weiter. Sie glauben, dass es Tayyip Erdogan sei, der nach Deutschland gehen will. Wenn ich es will, gehe ich morgen dorthin, und wenn sie mich am Sprechen verhindern wollen, werde ich die Welt durcheinander bringen!“
Kurdische Fahne in Istanbul
Es gab auch den „Fahnen Skandal“. Als Masud Barzani, der Präsident der türkischen Lokalregierung im Irak, am 26. Februar Istanbul besuchte, wurden am dortigen Flughafen seine kurdische Flagge zusammen mit der nationalen türkischen aufgezogen. Es war nicht das erste Mal, dass die irakisch-kurdische Flagge in der Türkei erschien. Die Beziehungen zwischen der Türkei und dem irakisch kurdischen Teilstaat sind gut, aus wirtschaftlichen und aus politischen Gründen. Doch es war das erste Mal, dass die Flagge der kurdischen Lokalregierung im Irak neben jener der türkischen Nation aufgezogen wurde.
Der oben erwähnte Bundesgenosse der AKP im Parlament, Devlet Bahceli, war wutentbrannt. „Dieser Lappen neben der türkischen Flagge!“, rief er im türkischen Parlament. „Ist dies eine Verschwörung? Es ist ein Missbrauch, ein Fehlgriff und ein Skandal!“ Der Ministerpräsident suchte ihn zu beruhigen. Das sei eben diplomatischer Brauch, sagte er. Erdogan äusserte sich nicht dazu.
Doch die politischen Beobachter stellten Rechnungen auf. Was wird diese Episode für die kurdischen Stimmen und jene der Nationalisten bedeuten? Dient Bahcelis Wut dazu, mehr nationalistische Stimmen für das „Ja“ zu mobilisieren? Werden die Kurden eher „Ja“ stimmen, wenn die Flagge des einen von ihnen in Istanbul weht? Oder mehr „Nein“, weil sie von den Nationalisten verunglimpft wird?
Angebliche Unruhe unter den Offizieren
Was die Militärs angeht, gibt es Gerüchte, nach denen sich unter den Offizieren „Unruhe“ zeige. Eine der wenigen Zeitungen, die sich noch nicht in der Hand der Regierung befinden, das altangesehene Blatt „Hürriet“ (Freiheit), wagte es, diese angebliche „Unruhe“ zu kommentieren. Der Kommentator nannte sieben Punkte, welche das Hauptquartier der Armee beunruhigten.
Nummer eins war die zwei Wochen zuvor erfolgte Anordnung, nach der in den Streitkräften beschäftigte Frauen ein Kopftuch tragen können, wenn sie dies begehren. Dies ist gewissermassen der Schlussstrich unter den Jahrzehnte langen überaus heissen Kampf um die Kopftücher innerhalb staatlicher Institutionen. Erdogan reagierte auf den Artikel, indem er ihn öffentlich als „sehr hässlich, unverschämt und grob“ bezeichnete. Die Aktien des Dogan-Konglomerates, dem „Hürriet“ gehört, brachen ein. Die Zeitung entschuldigte sich in der nächsten Ausgabe. Ihr Chefredaktor wurde entlassen.
Der Vorfall gab Anlass zu Spekulationen, die im Ausland veröffentlicht wurden und die unterstrichen, dass der Ausgang des Plebiszits möglicherweise doch ungewiss sei. Sie warfen sogar die Frage auf, ob Erdogan vielleicht eine Ausflucht finden werde, um das Plebiszit aufzuschieben, falls er einsehen sollte, dass das „Ja“ trotz allen Vorkehrungen ungewiss sei.