In den USA sterben die Zeitungen massenweise. In vielen grossen Städten gibt es keine richtigen Zeitungen mehr. Auch in Europa haben grosse Blätter bis zu einem Drittel ihrer Auflage verloren. Viele kämpfen ums Überleben. In Italien ist jetzt alles anders. Das Land galt immer als ein publizistischer Sonderfall. Über Jahre herrschte die Meinung vor: Die Italiener lesen keine Zeitungen – ausser den Sportzeitungen. Und tatsächlich ist die grösste Zeitung im Land eine Sportzeitung: die rosafarbene "Gazzetta dello Sport".
Doch die neuen Erhebungen zerstören dieses Klischee. Der Zeitungskonsum der Italienerinnen und Italiener ist im vergangenen Jahr markant gestiegen. Die Italiener sind wieder ein Volk der Zeitungsleser.
Zuwachsraten von bis zu 16 Prozent
Die drei grossen Blätter des Landes haben im vergangenen Jahr zwischen knapp fünf und knapp neun Prozent Leser gewonnen. Dies geht aus der jüngsten Analyse des Medienforschungsunternehmens Audipress hervor. Audipress ist ein Pendant zum schweizerischen WEMF.
Klammert man die "Gazzetta dello Sport" aus, so ist die linksliberale Römer Zeitung „La Repubblica“ die grösste umfassende italienische Tageszeitung, und zwar seit 2004. Sie gewann im letzten Jahr 7,5 Prozent Leser und wird jetzt täglich von 3,523 Millionen Leserinnen und Lesern gelesen. „La Repubblica“ ist die von Berlusconi und seiner Partei am meisten gehasste Zeitung.
An zweiter Stelle, mit 3,430 Millionen Lesern folgt das bürgerliche Mailänder Blatt „Corriere della sera“. Der Corriere hat im letzten Jahr 4,8 Prozent Leser gewonnen. Dritte ist die Turiner „La Stampa“ mit 2,321 Millionen Lesern und einem Plus von 8,9 Prozent.
Doch nicht nur die grossen Drei haben stark zugelegt. Die Wirtschaftszeitung „Il Sole 24 Ore“, die viele als die beste italienische Zeitung bezeichnen, machte einen Sprung von 16,2 Prozent. Auch die Regionalzeitungen und selbst die altkommunistische und jetzt modernisierte „Unità“ legte um 5,2 Prozent zu.
Emotionale Polarisierung der Gesellschaft
Welches sind die Gründe für diesen Zeitungsboom, von dem französische, deutsche und Schweizer Verleger nur träumen können? Zweifellos hat die letztjährige emotionale Polarisierung der italienischen Gesellschaft den Zeitungsboom gefördert.
Das Hickhack um Berlusconi, seine Affären, seine Prozesse und sein Sturz haben die Auflagen beflügelt, ebenso der Amtsantritt von Mario Monti. Seine neue Politik betrifft alle Italiener. Der Durst nach detaillierten Informationen ist deshalb gross. Und natürlich suchen die Italiener auch Orientierung in der Wirtschafts- und Finanzkrise. Das ist einer der Gründe, weshalb die Wirtschaftszeitungen stark zulegen und der Wirtschaftsteil der grossen Blätter ausgebaut wurde.
Vielleicht kommt auch dazu, dass das Fernsehen keine ernstzunehmende Informationsquelle mehr ist. Sowohl die Berlusconi-Kanäle als auch die von ihm in die Knie gezwungene öffentlich-rechtliche RAI informierten einseitig regierungstreu. Während Monaten wurde die Mär von der guten italienischen Wirtschaftslage verbreitet. Das Vertrauen vieler Italiener in die Fernsehnachrichten ist dahin. Wichen sie deshalb auf Zeitungen aus, um sich informieren zu können?
Die Oppositionsblätter profitierten
Wenig erstaunt, dass vor allem jene Blätter stark dazu gewonnen haben, die mit einer Fülle von Kommentaren, Analysen und Hintergrundberichten aufwarten. Gerade in schwierigen Zeiten, will man nicht nur mit News erschlagen werden, sondern man möchte verstehen, was abläuft.
Trotz televisionärer Gehirnwäsche der Regierung Berlusconi schwand das Vertrauen in seine Informationspolitik zunehmend. So ist es zu erklären, dass die Oppositionsblätter vom Zeitungsboom am meisten profitierten. Neben der „Repubblica“, dem Römer „Messaggero“ und „l’Unità“ legte auch „L’Espresso“ zu. Das linke Wochenmagazin (aus dem Haus der „Repubblica“) hat erstmals mit 2,53 Millionen Lesern das Berlusconi-treue „Panorama“ überholt.
Auf der andern Seite haben die Berlusconi-treuen Zeitungen – trotz emotionalen Zeiten – keinen fulminanten Aufschwung erlebt. Berlusconis übles Kampfblatt „Il Giornale“ hat zwar 2,5 Prozent gewonnen, liegt aber weit abgeschlagen mit 746‘000 Lesern zurück. Und „Libero“, eine zweite Berlusconi-Zeitung, hat gar 2,8 Prozent verloren.
Die italienischen Zeitungen sind billig. Für wenig Geld wird viel geboten. Die „Repubblica“ kostet zum Beispiel einen Euro. Für dieses Geld erhalten Leserinnen und Leser eine riesige Fülle an Stoff, manchmal bis zu 80 Seiten.
Einbrüche bei der Gratispresse
Auch bei den Gratiszeitungen schwimmen die Italiener gegen den Strom. Während die Gratisblätter zum Beispiel in der Schweiz die eigentlichen Milchkühe ihrer Verlage sind, liest sie in Italien kaum jemand. Die in Mailand, Rom und Bergamo verteilte „Dnews“ (dove c’è notizia) hat sage und schreibe einen Einbruch von 18,9 Prozent erlitten. Auch „Metro“ und „Leggo“ haben über vier Prozent verloren. „Leggo“ wird seit November nur noch in Rom und Mailand verteilt. In grossen Städten wie Bologna, Florenz, Neapel, Turin und Bari wurde die Verteilung aus Kostengründen eingestellt.
Über die Gründe dieser Verluste kann nur spekuliert werden. Die Blätter sind boulevard-mässig aufgemacht. Vielleicht gefällt gerade das den Italienern nicht. Es ist seltsam: Das Publikum lässt sich stundenlang von blödelnden und enthirnten Fernsehsendungen berieseln: Doch eine erfolgreiche Boulevard-Zeitung hat es in Italien nie gegeben.
Eher seltsam mutet an, dass die grossen Sport-Zeitungen nochmals erheblich gewachsen sind – und das in einem Jahr ohne Fussball-Weltmeister- oder -Europameisterschaften. „La Gazzetta dello Sport“ hat ganze acht Prozent Leser gewonnen und wird jetzt von 4,377 Millionen Italienern verschlungen. Auch die andern Sportzeitungen, der „Corriere dello Sport“ und „Tuttosport“ legen stark zu. Eine Erklärung dafür zu finden, ist nicht einfach. Ein Mailänder Soziologe wagt die These, dass sich das Volk in wirtschaftlich bedrückenden Zeiten eben in Sport und Spiele flüchtet. Erklärt das ein Plus von acht Prozent?
Doch die Italiener lesen nicht nur häufiger Bezahlzeitungen. Sie surfen auch häufiger im Netz. Auch in Italien sind die Internet-Auftritte der grossen Blätter eine riesige Erfolgsgeschichte. Vor allem für die drei Grossen, „Repubblica“, „Corriere“ und „La Stampa“, die alle einen sehr aktuellen Dienst offerieren. Auch da liegt die „Repubblica“ an der Spitze. Ihr Web-Auftritt wird von monatlich neun Millionen Usern konsumiert.