Er gilt als bisexuell, gewalttätig und wird wegen Totschlags aus Rom verbannt. Die Ewige Stadt wimmelt zu seiner Zeit von Prostituierten. Immer wieder sind es Dirnen, die ihm Modell stehen – auch für seine Heiligenbilder. Das hindert die Adligen, die Bischöfe und Kardinäle nicht, ihn zu verehren. Sie erkennen sein Genie und lassen sich von ihm porträtieren. Die homoerotischen Szenen in einigen seiner Gemälde stören niemanden, ebenso wenig die Tatsache, dass manche seiner gemalten Jünglinge offenbar seine Lustknaben waren.
Seit jeher ist Italien verrückt nach ihm. Über keinen Maler des 17. Jahrhunderts gibt es so viele Legenden, Biografien und Dokumentarfilme. Jetzt hat das Caravaggio-Fieber das Land wieder voll im Griff. Wieder ist er der Superstar.
Poseidon vergewaltigt die schöne Medusa
Im wichtigsten italienischen Museum, den Uffizien in Florenz, wurden am vergangenen Montag acht neugestaltete Säle eingeweiht. Sie sind vor allem Caravaggio gewidmet. Schon am ersten Tag standen Besucherinnen und Besucher bis zu drei Stunden Schlange.
Wichtigste Ikone der Ausstellung ist Medusa. Sie war von Poseidon vergewaltigt worden. Die Göttin Athene, neidisch auf die Schönheit der Medusa, sah der Tat zu. Sie bestraft nicht etwa Poseidon, sondern verwandelt die Schöne in ein hässliches Ungeheuer mit Schlangenhaaren. Perseus, der Göttersohn, schlägt ihr schliesslich das Haupt ab. Auf einem Schild präsentiert er den Kopf mit seinen aufgerissenen Augen.
Caravaggio malte Ovids Szene 1597/98 auf ein Stück Pappelholz, das mit einer Leinwand überzogen wurde. Auftraggeber war Kardinal del Monte. Er schenkte das Bild dem Grossherzog der Toskana, Ferdinando I de’ Medici. Der kunstbegeisterte Kardinal del Monte war der erste grosse Förderer Caravaggios.
Neben dem „Haupt der Medusa“ sind in den neu eingerichteten Sälen unter anderem der „Jüngling, von einer Eidechse gebissen“, „Il Sacrificio di Isacco” und „Bacchus“ zu sehen.
Die Uffizien sind zwar eines der berühmtesten Museen der Welt, doch Caravaggios Werke fristeten ein eher kümmerliches Dasein. Das ist jetzt anders. „Dank einer Mischung aus natürlichem und künstlichem Licht kommen die Meisterwerke besonders gut zur Geltung“, sagt Eike Schmidt, der Direktor des Museums. Dank der neuen Gestaltung der Säle würden die Besucher „in die Atmosphäre des 17. Jahrhunderts versetzt“. Auch bei grossem Besucherandrang seien Caravaggios Werke gut zu sehen.
Die umgestalteten Säle, die bereits in den ersten Tagen überrannt werden, sind eine Art Abschiedsgeschenk von Eike Schmidt. Er verlässt die Uffizien im kommenden Jahr und wird Direktor des „Kunsthistorischen Museums“ in Wien (KHM). Er hatte offenbar genug von der italienischen Bürokratie und der Tatsache, dass ihm italienische Kunsthistoriker ständig dazwischenfunkten. Dass er kein Italiener ist, machte seine Arbeit auch nicht leichter.
420'000 Besucher in vier Monaten
Doch nicht nur die Uffizien würdigen Caravaggio. Dieser Tage wurde in fast 200 italienischen Kinos – von Como bis Syrakus – ein neunzigminütiger Dokumentarfilm gezeigt. „L’anima e il sangue“ ist eine emotionale Reise durch das Leben und das Werk des grossen Malers. Der Film entstand in jahrelanger Arbeit unter Mitwirkung namhafter italienischer Kunsthistoriker, so Claudio Strinati. Allein am ersten Tag spielte der Film 300’000 Euro ein.
Doch das neue Caravaggio-Fieber war schon letztes Jahr ausgebrochen. Die Ausstellung „Dentro Caravaggio“ im Palazzo Reale in Mailand wurde in vier Monaten von 420’000 Besucherinnen und Besuchern gesehen. Der zweieinhalb Kilogramm schwere Katalog, der 40 Euro kostete, wurde 150’000 Mal verkauft. Vor dem Museum bildeten sich Schlangen von über einem Kilometer. Wo gibt es das sonst?
Das Fieber ist ansteckend
Nicht genug: Die „Gallerie d’Italia di Milano“ erreicht einen neuen Besucherrekord. Bis zum 8. April wird dort Caravaggios letztes Werk gezeigt: „Il Martirio di Sant’Orsola“.
Viele andere italienische Museen – und auch Kirchen –, die Bilder des rätselhaften Genies zeigen, verzeichnen stark steigende Besucherzahlen.
Samstagmorgen, die französische Kirche an der Piazza San Luigi de’ Francesi in Rom. In einer Nische hinten links hängen drei grosse Gemälde, jedes etwa drei Meter hoch. Sie zeigen „die Berufung des Heiligen Matthäus“, das „Martyrium des Evangelisten Matthäus“ und die „Niederschrift des Evangeliums mit dem Engel“. Mehr als 50 Besucherinnen und Besucher scharen sich vor den Bildern. „Früher waren zwei, drei Personen da“, sagt ein dunkelhäutiger Wächter, der auch Postkarten verkauft. „Jetzt sind es bis zu 100.“ Das Caravaggio-Fieber ist ansteckend.
Vom „Mythos Caravaggio“ profitiert jetzt auch die Römer „Galleria Doria Pamphilj“. Das Museum liegt am Corso, einen Steinwurf von der Piazza Venezia entfernt. Caravaggio ist hier unter anderem mit der heiligen „Reuigen Magdalena“ vertreten. Für das Gemälde sass Caravaggios Freundin Anna Bianchini Modell, eine rothaarige Prostituierte.
Vom neuen Caravaggio-Boom profitiert natürlich auch die Römer „Galleria Nazionale d’Arte Antica“. Dort hängt eines der phantastischen Bilder des Künstlers: „Judith und Holofernes“. Im zweiten Stock des Museums, hinten rechts, wurde eine eigene Wand für das Meisterwerk reserviert. Im letzten Sommer noch stand man fast allein vor diesem Meisterwerk. Heute drängen sich hier 40, 50 Personen.
Das Gemälde erzählt die Geschichte des assyrischen Feldherrn Holofernes, der die Israeliten belagert. Judith, laut Altem Testament „eine schöne Gestalt mit blühendem Aussehen“, suchte zusammen mit ihrer Magd Holofernes auf. Sie bezauberte ihn durch ihre Schönheit und gab ihm Wein, viel Wein. Als er betrunken war, schlug sie ihm den Kopf ab und rettete so ihr Gottesvolk.
Das Bild gehört zu den berühmtesten Werken Caravaggios. Wieder: aufgerissene Augen, verzerrtes Gesicht, Gewalt.
Beatrice, die geliebte Mörderin
Das Bild hatte Caravaggio kurz nach der Hinrichtung der Vatermörderin Beatrice Cenci gemalt. Selten hatte eine Mörderin ein solche Sympathie genossen wie sie. Zusammen mit ihrer Stiefmutter hatte sie ihren gewalttätigen und sadistischen Vater mit Hammerschlägen töten lassen. Breite Bevölkerungskreise und viele Adlige setzten sich für Beatrice ein. Vergebens. Papst Clemens VIII. lehnte eine Begnadigung ab.
So wurde am 11. September 1599 unter dem Geschrei einer riesigen Menge zunächst die Stiefmutter und dann Beatrice vor der Engelsburg enthauptet. Giacomo, der Bruder von Beatrice, wurde mit glühenden Zangen gequält und gevierteilt. Die Menge war so riesig, dass eine Tribüne zusammenbrach und vier Menschen starben.
Unter den Zuschauern befand sich Caravaggio. Er liebte solche Szenen. Laut dem italienischen „Cultor college“ wird „allgemein angenommen, dass er die Hinrichtung von Beatrice vor Augen hatte, als er die biblische Judith malte“.
Die Römer Zeitung „La Repubblica“ nennt jetzt Caravaggio „die Ikone unserer Zeit“. (Links ein Porträt Caravaggios von Ottavio Leoni, um 1614, Bibliotheca Marucelliana, Florenz) Die italienische Kunsthistorikerin Francesca Cappelletti, Professorin in Ferrara, bezeichnet ihn als den ersten „Rockstar“, der die Malerei revolutionierte. Seine ausdrucksvollen Bilder hätten die heutige Zeit vorausgesagt.
Er zeigte als einer der ersten nicht nur das Schöne, Liebliche, Edle und Heilige – so wie es Botticelli, Raffael und viele andere taten. Mit voller Wuchte malte Caravaggio die Abgründe des Lebens, den Hass, die Gewalt, das Leiden. Die Eindringlichkeit seiner Szenen machten ihn zu dem, was der 1866 geborene britische Maler und Kunsthistoriker „den ersten modernen Künstler“ nannte.