„Save schools not banks“ heisst es auf Transparenten. Hunderttausende haben letzte Woche demonstriert: in Rom und Mailand, in Neapel und Bologna, in Catania und Florenz. In insgesamt 90 Städten fanden Manifestationen statt. In Mailand wurde der Sitz der Unicredit-Bank mit Eiern und Farbbeuteln beworfen. Eine Gruppe Jugendlicher konnte im letzten Moment gehindert werden, den Sitz von Moody’s zu stürmen. In Rom demonstrierten die Jungen vor der Banca d’Italia.
„Das ist erst der Anfang“, heisst es in einem Internet-Aufruf junger Italiener. Neben Finanzinstituten soll nun gegen die Misswirtschaft der Regierung Berlusconi demonstriert werden. Über Twitter und Facebook rufen die Jungen zu den Demonstrationen auf. Der kommende Samstag, 15. Oktober, ist – laut spanischem Vorbild – zum „Tag der Empörten“ erklärt worden. Dann sollen wieder Hunderttausende „Ragazzi indignados“ gegen Berlusconi und die Finanzwirtschaft demonstrieren.
„Wir holen uns unsere Zukunft zurück“ schreien sie. Tatsächlich: Die italienische Jugend ist die Hauptleidtragende der lahmenden Wirtschaft – zusammen mit kinderreichen Familien. Jeder zweite Junge findet keine Arbeit. „Es ist kein Land für die Jungen“ schreibt Italiens grösste Zeitung La Repubblica. Einer von vier Jungen tut gar nichts: er studiert nicht und arbeitet nicht.
Ohne Junge keinen Aufschwung
Die Ausbildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten sind gering. Fachhochschulen gibt es keine. 40 Prozent der Schulgebäude befinden sich in einem schlechten Zustand. In den vergangenen drei Jahren hat Berlusconi das Bildungsbudget um acht Milliarden Euro gekürzt. Am Freitag hatten die Lehrer wegen der Budgetkürzungen gestreikt. Wer in jungen Jahren schon ins Abseits getrieben wird, leidet oft ein Leben lang darunter.
Italien verheizt seine junge Generation. Doch ohne die Jungen gibt es keine Entwicklung, keinen Aufschwung. „Start-up“ ist in weiten Teilen Italiens ein Fremdwort.
Das scheint Berlusconi nicht zu kümmern. Vergangene Woche musste er sich von höchster Stelle die Leviten lesen lassen. „Wir machen nicht nur die Zukunft unserer Jugend kaputt, sondern auch jene unseres ganzen Landes“, sagte Mario Draghi, der bisherige Chef der italienischen Notenbank und neuer Präsident der EZB, der Europäischen Zentralbank. „Die Rechnung bezahlen wir dann alle“. Draghi kritisierte, dass Berlusconi das Problem ignoriere.
Vor seinem Umzug an den EZB-Sitz in Frankfurt zog Draghi in einem Kloster in der Toscana Bilanz. Es war fast ein Aufschrei. „Es braucht endlich Strukturreformen, um das Land aus der Stagnation zu führen.“ Der jungen Generation würden keine Möglichkeiten geboten. Draghi verlangt bessere Ausbildungsmöglichkeiten und eine Beseitigung der bürokratischen Hindernisse für eine wirtschaftliche Tätigkeit.
Die Zeit des Silvio Berlusconi läuft ab
Die italienische Wirtschaft ist verkrustet, überreguliert, verbürokratisiert. Hätte Steve Jobs in Italien wirtschaften müssen, heisst es in einem Zeitungskommentar, wäre Apple schnell Konkurs gegangen – wegen der italienischen Bürokratie. Es fehlt an Impulsen, die die Jungen bringen könnten. Werden die italienischen Jugendproteste das Ausmass der spanischen „Idignados“-Welle erreichen? Oder jene der amerikanischen „Occupy Wall Street“-Bewegung? Wie auch immer: Sie kommen für Berlusconi zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Der Premierminister steht mit dem Rücken zur Wand wie nie zuvor. Die Zeit des Silvio Berlusconi läuft ab.
Nicht nur die Jugend demonstriert. Am vergangenen Wochenende gingen in Rom und Mailand Zehntausende auf die Strasse und forderten Berlusconis Rücktritt. Weitere solche Massendemonstrationen sind angesagt.
Rebellen in den eigenen Reihen
Unmittelbare Gefahr droht dem Premier aus den eigenen Reihen. Die Geduld seiner Parteifreunde geht zu Ende. In Rom organisiert sich jetzt eine Gruppe von „Rebellen“. Angeführt wird sie vom früheren Industrieminister Claudio Scajola, dem früheren Innenminister Guiseppe Pisanu und dem Römer Bürgermeister Gianni Alemanno. Ihr Ziel ist der Sturz Berlusconis. Scajola glaubt, mindestens 30 Abgeordnete der Grossen Kammer und zehn Senatoren von Berlusconis Partei „Volk der Freiheit“ (PdL) um sich sammeln zu können. Dann soll ein Misstrauensantrag gegen den Premier eingereicht werden. Und dann könnte es knapp werden.
Scajola und seine Rebellen möchten eine neue Mitte-rechts-Regierung - ohne Berlusconi. Sie soll von Gianfranco Finis Partei „Zukunft und Freiheit in Italien“ (FLI) unterstützt werden. Fini war im letzten Jahr mit einem Putschversuch gegen Berlusconi gescheitert.
Nicht ausgeschlossen ist auch eine Allparteien-Regierung mit Einbezug des linken „Demokratischen Partei" (PD).
Berlusconi ist zuversichtlich: „Sie werden mich nicht stürzen können“, sagte er vom fernen Russland aus. „Sie können nicht genug Abtrünnige um sich sammeln“. Ganz unbegründet ist Berlusconis Zuversicht nicht. Hahnenkämpfe innerhalb der Opposition haben ihn mehrmals schon triumphieren lassen.
In der Datscha von Stalin
Vor allem muss das schwer angeschlagene Vertrauen in die Wirtschaft wieder hergestellt werden. Nach der Rückstufung Italiens durch die drei grossen Rating-Agenturen glaubt niemand mehr daran, dass sich die italienische Wirtschaft mit einem Premierminister Berlusconi erholen kann.
Berlusconi sagt, es gäbe keine Alternative zu ihm. Jeden zweiten Tag wiederholt er, dass er nicht zurücktreten werde. Das wirkt bei seinen Parteifreunden wenig vertrauensbildend. Die Wirtschaftsreformen würden jetzt angepackt, sagt er. Jetzt? Er hatte fast 17 Jahre lang Zeit, um Reformen durchzuführen.
Hunderttausende demonstrieren, im eigenen Lager wächst eine Revolte, die Rating-Agenturen stufen Italien zurück, die Wirtschaft fordert seinen Rücktritt: Doch statt sich um die Krise in seinem Land zu kümmern, reiste er am Wochenende nach Russland. In der Datscha von Stalin bei St. Petersburg nahm er an der Geburtstagsfeier seines Freundes Putin teil. In 13 Monaten hat Berlusconi vier Mal Putin besucht. „Putin bereitete mir einen grossartigen Empfang“, brüstet sich jetzt Berlusconi: una grandissima accoglienza. Antonio Di Pietro, Chef der Partei „Italien der Werte“ (Idv) und lauter Berlusconi-Kritiker sagt: „Italien brennt und Kaiser Nero vergnügt sich in Russland“.
Seinen tollen Humor hat er jedenfalls noch nicht verloren. Um seiner Partei neuen Schwung zu geben, wolle er sie jetzt umbenennen. Sie soll künftig nicht mehr „Forza Italia“, sondern „Forza gnocca“ heissen. „Gnocca“ ist der weibliche Geschlechtsteil.