Der Onkel des „piccolo Alfredo“ heisst Roberto und ist Coiffeur im umbrischen Städtchen Orvieto. In seinem Salon bröckelt der Verputz. In einem Aquarium schwimmt ein einsamer Goldfisch. Wie immer am Samstag sitzen hier viele ältere Männer. Sie sind nicht hier, um sich die Haare schneiden zu lassen; sie sind hier um zu schwatzen.
Die Männer sind entrüstet, fuchteln mit den Händen, sagen böse Worte. „Das gibt’s doch nicht, ausgerechnet in Italien. Vergogna“.
Ja, ausgerechnet in der Fussballnation Italien wird an diesem Wochenende kein Fussball gespielt. „Die Spieler werden nicht auf dem Feld erscheinen“, heisst es im Communiqué 13-2011 der Spielergewerkschaft.
15,8 Millionen Euro Jahressalär
Die 20 Mannschaften der ersten Liga (in Italien Serie A genannt) hätten an diesem Samstag und Sonntag die Saison 2011/2012 eröffnen sollen. Berlusconis AC Milan, der bisherige Meister, hätte nach Cagliari reisen sollen. Das zweitklassierte Inter (Internazionale Milano) hätte Lecce empfangen sollen - und so weiter.
Doch die Gewerkschaft, die die Spieler vertritt, hat zum Spielerstreik aufgerufen. So wurde denn der erste Spieltag der Serie A abgesagt. Und vielleicht werden am nächsten und übernächsten Wochenende weitere Absagen folgen. „Ein Dauerstreik ist nicht auszuschliessen“, sagt der Präsident der Fussball-Liga.
Der Grund ist ein Streit zwischen der Spielergewerkschaft und der Fussball-Liga. Es geht um einen neuen Mantelvertrag. Und natürlich geht es ums Geld. Italiens Fussballspieler sind die bestbezahlten der Welt. Sie verdienen pro Jahr viele, viele Millionen. Der beim AC Milan spielende Stürmer Zlatan Ibrahimovic kassiert pro Jahr brutto 15,8 Millionen und netto neun Millionen Euro. Gianluigi Buffon, der Torhüter bei Juventus hat einen Netto-Verdienst von sechs Millionen Euro. Francesco Totti, der bei der AS Roma spielt, verdient netto 4,9 Millionen. Dazu kommen riesige Vergünstigungen. Nirgendwo in Europa werden die Fussballhelden so verwöhnt wie im Belpaese.
Solidaritätssteuer
Ausgerechnet der Fussball-verrückte Silvio Berlusconi, Besitzer des AC Milan, will nun diese horrenden Saläre ein ganz klein wenig reduzieren. Wegen der Wirtschafts- und Finanzkrise verlangt er, dass auch die Stars eine Solidaritätssteuer zahlen müssen. Wer jährlich mehr als 90‘000 Euro verdient, müsste fünf Prozent Solidaritätssteuer bezahlen. Wer mehr als 150‘000 Euro kassiert, müsste zehn Prozent zahlen. Ibrahimovic müsste also von seinen neun Millionen 900‘000 Euro als sogenannte Eurotassa bezahlen.
Das wollen die Spieler nicht, und ihre Gewerkschaft stellt sich hinter sie. Sie verlangt, dass die Klubs und nicht die Spieler einen Solidaritätsbeitrag an die Regierung bezahlen müssten.
Italien ohne Fussball ist wie Italien ohne Spaghetti
Es ist schon seltsam: Berlusconi hat mit seinen unanständigen Löhnen dazu beigetragen, dass die Fussball-Diven immer gefrässiger werden. Jetzt findet offenbar sogar er, dass sie ein wenig zu viel verdienen. Natürlich hat sein Vorstoss auch populistische Züge. Berlusconi weiss, dass die meisten Italiener das Luxusleben ihrer Fussball-Diven wenig goutieren. Doch die Stars beharren auf ihrem Einkommen – und streiken.
„Italien ohne Fussball, das ist wie Italien ohne Spaghetti“, hört man im Coiffeur-Salon in Orvieto. In keinem andern europäischen Land hat sich der Fussball so tief in die Volksseele gegraben. Da wird gejubelt und geweint, da wird gestritten und geprügelt. Wer in Italien lebt und nicht über Fussball sprechen kann, ist ein einsamer Mensch.
Die grösste italienische Tageszeitung ist „La Gazetta dello Sport“. Das Blatt hat eine Auflage von 3‘995‘000 Exemplaren. Dazu kommt „Il Corriere dello Sport“ mit 1‘677‘000 Millionen Auflage und „Tuttosport“ mit 911‘000 Käufern. Täglich werden also in Italien rund 6,6 Millionen Sportzeitungen verkauft. Und da geht es vor allem um Fussball, Fussball und Fussball. (La Repubblica, die grösste „normale“ italienische Zeitung, hat eine Auflage von 3,2 Millionen.)
Der Sonntagnachmittag ist in Italien Fussball-heilig. Da werden die besten Familien auseinandergerissen. Da sitzt man um 13.00 Uhr um den Mittagstisch. Alle sind da: die Eltern, die Kinder, die Schwiegertochter und der Schwiegersohn, die nonna und der nonno. Immer wieder schaut der Vater auf die Uhr. Um 15.00 Uhr wird er erlöst, dann werden Fernsehen oder Radio eingeschaltet. Dann beginnt la partita. Und die sonst umhätschelten bambini haben jetzt zu schweigen.
Am nächsten Morgen in der Bar oder am Arbeitsplatz wird kommentiert, werden Schiedsrichter-Entscheide kritisiert, Prognosen gestellt, Spieler in die Hölle oder in den Himmel geschickt. Da man sich nie einig ist, geht man laut gestikulierend auseinander.
Kein geeintes Land
Wenn die italienische Fussballnationalmannschaft verliert, ist das eine nationale Tragödie. Auch 150 Jahre nach der Vereinigung ist Italien noch immer kein wirklich geeintes Land. Eigentlich immer weniger. Umberto Bossis Padanien will sich gar von Rest-Italien lösen. Das Land ist ideologisch, sozial und geografisch zerrissen. In Florenz nennt man die Napolitaner Afrikaner. „Ein Lombarde“ so spotten die Italiener, „unterscheidet sich von einem Sizilianer wie ein Eskimo von einem Ougadougouesen“. Ein Apulier hat mit einem Piemontesen nichts gemein. Ein Toskaner fühlt sich als Toskaner und nicht als Italiener.
Geeint wird das Land, wenn schon, durch den Fussball. Plötzlich stehen sie alle, von Como bis Siracusa, hinter ihrer Nationalmannschaft. Gemeinsam fiebern und zittern sie, schreien und heulen sie. Gemeinsam schwingen sie Fahnen, die Padanier und die Sizilianer, die Kalabresen und Piemontesen. Gemeinsam singen sie die Nationalhymne, „Fratelli d'Italia, l'Italia s'è desta“. Fussball ist die einzig wirkliche Klammer in diesem Land. Italien braucht den Fussball, um Italien zu sein.
Natürlich ist nicht alles idyllisch. Saubannerzüge gibt es auch in Italien. Züge und Bahnhöfe werden demoliert, Polizisten und Zugpassagiere zusammengeschlagen. Die italienischen Hooligans sind zwar weniger betrunken als die britischen, aber ebenso vulgär.
An Wochenenden fahren die Fussball-Appassionati, die Tifosi, von Mailand nach Catania, um ihre Squadra zu unterstützten: oder von Neapel nach Turin oder von Lecce nach Parma oder von Verona nach Turin. Oft stossen die Anhänger verfeindeter Teams in Autobahnrestaurants aufeinander und prügeln sich - manchmal fast zu Tode.
Die jetzt ausgefallenen Spiele sollen am 21. Dezember oder am 11. Januar nachgeholt werden. Nicht ausgeschlossen ist, dass sich die Gerichte oder später die Regierung mit dem Streik befassen müssen.
Sympathien für Berlusconi
So Fussball-verrückt das Land auch ist, die Italiener schütteln nur die Köpfe. So sehr der piccolo Alfredo auch weint: Die Spieler und ihre Gewerkschaft stehen ziemlich allein da. Eine Solidaritätswelle gibt es nicht. La Gazzetta dello Sport nennt den Streik ein „Eigentor“.
Es ist nicht das erste Mal, dass Italiens Fussballer streiken. Schon 1996 traten sie in den Ausstand, und schon damals überlebte die Nation.
Da wird behauptet, die Zwangspause schade der Reputation des italienischen Fussballs. Doch hat dieser Fussball mit seinen periodisch wiederkehrenden Betrügereien und Skandalen nicht schon längst manche Reputation verloren?
Im Coiffeur-Salon in Orvieto, wo eigentlich jeder links wählt, geschieht Erstaunliches: Man spürt Sympathie für Silvio Berlusconi. „Casta di viziati“, nennt man hier die Fussball-Barone: „Kaste der Verwöhnten“.
Ein älterer Mann ruft: „Wir werden finanziell gerupft wie Hühner, weshalb sollen ausgerechnet diese Diven nicht auch einen Beitrag leisten“. Ein anderer, der immer für den linken Partito Democratico gestimmt hat, sagt: „Silvio, halte durch, zeig ihnen den Meister!“.